Rückblick 2016

Zeitfenster

Nachdem die Staatsmacht ab 1995 sechszehn Jahre lang dreizehn Transporte mit 113 Castorbehältern hochradioaktiver Industrieabfälle aus der französischen Plutoniumfabrik und süddeutschen Atomkraftwerken mit der Absicht in das Zwischenlager Gorleben knüppelte, sie für immer im Wendland zurück zu lassen, bewiesen die entschlossenen Wenden 2011 zusammen mit vielen guten FreundInnen von überall, dass es letztlich womöglich unmöglich sein könnte, ein atomares Endlager gegen die betroffene Bevölkerung vor Ort durchzusetzen, zumal, wenn dieser Weg mit Lug und Trug und ausgeschlagenen Zähnen gepflastert ist. Waren zwingende „Staatsverträge“ zwei Jahrzehnte lang das Zuschlagargument, Transporte um jeden Preis durchzusetzen, öffneten sich mit dem für 2022 in Aussicht gestellten Atomausstieg nun überraschend „Zeitfenster“ der Politik, um neue Strategien zur Durchsetzung eines Endlagers zu ersinnen. Der Atommüll konnte mit einem Mal warten. Die ehrliche Aufarbeitung der radioaktiven und hoch-belasteten Vergangenheit (und Gegenwart) musste es aber leider auch. Gorleben bleibt gesetzt. Damals wie heute.

Bewegte Zeiten

Im Wendland sind Generationen mit Castortransporten und Atomwiderstand herangewachsen und Gorleben war über Jahrzehnte der überregionale Fokuspunkt der gesamten Anti-Atombewegung. Das bleibt zwar in alter Verbundenheit auch bei vielen unserer Freunde noch so, aber ohne Castortransporte ist dennoch für alle spürbar, dass der aktive Widerstand sich stärker ins Regionale oder eben auch ins Überregionale verlagert, wenn die Novembertreffen ausbleiben. Bei Fukushima-Mahnwache, Sonntagsspaziergang, Gorleben-Gebet drängen wir Wenden zwar wie seit eh und jeh mahnend und protestierend und zu Demos und dem Gorlebentag der Kulturellen Landpartie auch massenhaft auf die Straße, aber zukünftige Atommülltransporte werden den Süden treffen und der europäische Atomausstieg muss in Gronau und Lingen erkämpft werden. Für eine kommende Generation ist – zu Unrecht! – der Atomausstieg schon jetzt ein Thema von gestern und Dekarbonisierung, also der Ausstieg aus fossilen Energieträgern, – zu Recht! – das Thema ihrer Zeit. Auch die Bürgerinitiative tritt mit der hochkompetenten und äußerst aktiven Fachgruppe Fracking diesen neuen alten Bedrohungen entgegen. Mit einem Themenabend und der Teilnahme an der (Anti-) TTIP-Demo in Hannover haben wir uns genau so engagiert, wie als Energie-Wenden bei „Energiewende retten“ im Juni in Berlin. Geologische und andere physikalische Argumente für eine übergeordnete Debatte hat unsere Fachgruppe Radioaktivität kontinuierlich erarbeitet.

Auch unserer überregionalen Rolle und Verantwortung unter den Anti-Atom-Initiativen sind wir bei „Lesen ohne Atomstrom“, auf der Fukushima-Demo der Exiljapaner in Berlin und im Trägerkreis „Uranfabriken schließen!“ und der Demonstration an der Brennelementefabrik Lingen gegen die atomare Brennstoffkette gerecht geworden. Aber trotz der realen und erschreckend akuten Bedrohung durch belgische und französische Pannenreaktoren erreicht dieses zentrale Thema immer noch viel zu wenige Menschen. Mit der Gorleben-Rundschau haben wir aber einen anerkannten profunden parteiischen Multiplikator, der Tausende erreicht. Die strategisch-politische Vernetzung und gemeinsame Positionierung mit anderen Standorten, an denen Atommüll liegt oder an denen die Lagerung vorgesehen ist, haben wir mit der kontinuierlichen aktiven Beteiligung an der „Atommüllkonferenz“, einem fachlich-politischen parteiunabhängigen Forum für Betroffene und Akteure, voran getrieben und zu den zwei jährlichen Konferenzen eine Arbeitsgruppe zu den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Atommüll und Begleitprozessen angeboten, in der auch die aktuelle Entwicklung kontrovers diskutiert wurde.

Zeitwende?

Die Auseinandersetzung um Gorleben dagegen hat sich spürbar in den politischen Raum verlagert, eine Tatsache, die uns – unverschuldet und verschuldet – bisweilen vorgeworfen wird. Dass einer nach Stand von Wissenschaft und Technik völlig veralteten PKA immer noch nicht die Betriebsgenehmigung entzogen wurde und die primitive Lagerkonzeption seit Jahren durchrostende Fässer produziert, trieb uns ebenso wütend vors Tor, wie die braune Vergangenheit der BGR und deren gesponserte Gutachten. Aber in der Veranstaltung mit Weil und Wenzel wurde deutlich, dass mit (sogenanntem) Atomausstieg und Standortauswahlgesetz (StandAG) die Fronten nicht mehr so trennscharf verlaufen. Es ist damit zu rechnen, dass mit dem Freikauf der Atomkonzerne und der Übernahme des Atommülls durch den Staat, sowie einer veränderten Situation ab 2022 der Druck auf ein schnelles Endlager weiter wachsen wird.

Der Endlagerkommission haben wir begründet die Einbindung verweigert; deren Abschlussbericht haben wir mit einer starken Demonstration „Kommission am Ende- Konflikte ungelöst!“ in Berlin und einem gleichnamigen Reader gemeinsam mit der AG-Schacht Konrad und .ausgestrahlt beantwortet. Aber obwohl wir die frühzeitige Einengung auf geologische Tiefenlagerung für falsch halten, die Beteiligung von Öffentlichkeit und Betroffenen eine Farce ist und viele Kriterien auf Gorleben zugeschnitten wurden, das weiter im Verfahren gehalten und bis ans Ende durchgeschleift wird, so haben wir doch einen großen Erfolg zu verzeichnen: erstmals besteht zumindest eine reale Möglichkeit, dass Gorleben am Ende doch nicht Endlager wird. Dass wir dies nicht ganz groß feiern, liegt nicht nur daran, dass die Chance noch sehr gering ausfällt. Denn auch wenn es einen anderen Standort trifft, sehen wir aber, dass aus den gescheiterten Endlagerversuchen Morsleben und Asse und den zum Scheitern verurteilten Verfahren Schacht Konrad und Gorleben keine oder die falschen Schlüsse gezogen worden sind. Wir schätzen das angestrebte Verfahren als genauso unfair und die Beteiligungsrechte als Feigenblatt ein und sehen, dass ein Endlager am Ende wieder gegen die Betroffenen durchgesetzt werden soll. Nicht glasklare mit der Öffentlichkeit verabredete Kriterien und das Primat der Sicherheit bestimmen den Prozess, sondern politische Aushandlungsprozesse, denen eine Behörde die Argumente zuliefert, in der die altbekannten Akteure wirken.

Vergangenheit

Wenn wir bis jetzt und mindestens auf absehbare Zeit ein Endlager in Gorleben verhindert und einen wesentlichen Beitrag für ein starkes gesellschaftliches Klima in Richtung eines Atomausstiegs geleistet haben, so haben wir das auch der Tatsache zu verdanken, dass wir 40 Jahre lang fest auf beiden Beinen gestanden haben. Wir waren stets spürbar auf der Straße präsent und haben mit vielen und starken Partnern Proteste für eine gerechte, ökologisch intakte und nachhaltige Welt ohne Atom organisiert. Wir haben aber auch im politischen Raum gewirkt – außerparlamentarisch und in die Parlamente hinein. Daran gab es bisweilen Kritik, zumal es sich oft als schwierig erwies, z.B. die komplexen Hintergründe und Details des parlamentarischen Verfahrens zum StandAG anders als scherenschnittartig zu transportieren oder externen Kritikern nicht Stoff für das Totschlag-Argument zu liefern, wir wollten ja nur unsere „Partikularinteressen“ durchsetzen (was übrigens legitim und im Detail auch mal so sein mag). Eine wichtige Forderung haben wir begonnen umzusetzen: wieder vermehrt Ratschläge einzuberufen, bei denen nicht wir (alleine) das Thema setzen.

… und Zukunft

Ein ehrenamtlicher Vorstand allein kann aber nicht alle Anforderungen erfüllen. Wir sind zwingend auf eure Hilfe und Mitarbeit und auch auf Verstärkung angewiesen. Wir erhalten natürlich auch sehr viel Zuspruch, aber es wird auch viel Kritik an uns herangetragen. Dabei würden wir uns wünschen, wenn die KritikerInnen sich auch selber noch mehr engagieren und uns helfen würden, uns noch pluralistischer aufzustellen. Auch wenn wir unweigerlich Diskurse untereinander auszutragen haben, sollten wir darüber nicht vergessen, dass die Gegner einer ökologischen Welt woanders sitzen. Eine wichtige Frage wird z.B. sein, wie es uns gelingt, in einem nun ohne akuten Druck auf Gorleben auf Zeit und Vergessen angelegten Endlagersuchprozess den Transfer unseres Widerstandes in die nächste Generation oder über unsere regionalen Themen hinaus den Support für zukünftige „Erkundungsstandorte“ zu organisieren. Auch die Frage, ob und wie wir uns in übergeordneten Themenbereichen, wie Klimagipfel und G20-Gipfel und zugleich unseren Hausaufgaben zuwenden sollen, und wie und welche Ressourcen wir dafür bereitstellen sollen, könnt nur ihr, die Mitglieder beantworten. Denn der Vorstand ist zu der Überzeugung gelangt, dass unser Ziel sein sollte, dass wir in 40 Jahren keine Mitgliederversammlung mehr machen müssen…

Gorleben soll leben! Der Rest der Welt soll´s auch.