Chronologie des Widerstands

Der Widerstand gegen Gorleben ist ein Gesamtkunstwerk: Eine Chronologie des Protests gegen die Atomanlagen im Gartower Forst.

MENSCHENGEMÄSSE KUNST MUSS
1. DIE ZERSTÖRUNG
DES MENSCHENGEMÄSSEN
VERHINDERN
2. DAS MENSCHENGEMÄSSE AUFBAUEN
Nur das ist KUNST und sonst gar nichts
Joseph Beuys

Der Widerstand gegen Gorleben ist ein Gesamtkunstwerk

Kundgebung 12. März 1977

Drei Wochen nach der Standortbenennung Gorlebens als „Nukleares Entsorgungszentrum“ (NEZ) am 22. Februar 1977 versammeln sich 16.000 Menschen auf der gespenstischen Waldbrandfläche, wo der riesige Atommüllkomplex errichtet werden sollte. Gebrannt hatte es im August 1975 an drei Orten, die in die engere Wahl für den Bau eines „NEZ“ gezogen wurden: in Lichtenhorst, Lutterloh und Gorleben 8.000 Hektar Wald und 5.000 Hektar Moor und Heide fraßen die Flammen. Die Brandursache wurde aufgeklärt: Brandstiftung. Die Täter wurden nie gefasst.

Treck 1979

Erste Bohrtrupps für Baugrunduntersuchungen werden durch Sitzblockaden behindert. Am 19. März umstellen Bauern das Bohr-Depot mit Traktoren. Am 25. März startet der Bauerntreck nach Hannover. Am 31. März demonstrierten 100.000 Menschen in der niedersächsischen Landeshauptstadt gegen die Atomkraft. In Harrisburgh (USA) kam es während des Trecks, am 28. März, zu einer Havarie mit Kernschmelze. Der damalige niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) befindet, dass eine Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) technisch zwar machbar, politisch aber nicht durchsetzbar sei. Am Bau eines atomaren Zwischenlagers und des Atommüllendlagers in Gorleben wird aber festgehalten.

Republik Freies Wendland

Die erste Tiefbohrung für die Erkundung des Salzstocks Gorleben beginnt am 5. Januar 1980. Die Bohrstelle 1003 wird eingerichtet. Als Reaktion darauf besetzen 5000 Menschen am 3. Mai die Bohrstelle 1004 und errichten ein Hüttendorf, die Republik Freies Wendland mit Wendenpass und eigener Radiostation. Walter Mossmann kreiert das Gorlebenlied. Wolf Biermann war da und der Juso Gerhard Schröder auch. Es gab Rock, Folk und Blues, eine Solaranlage, ein Frauenhaus. Am 4. Juni 1980 wird das Dorf von einer Polizeiarmada gewaltsam geräumt.

Atommüll-Alarm 1984

Am 4. September 1982 folgen 10.000 Menschen dem Aufruf zu einem „Tanz auf dem Vulkan“ als Reaktion auf den Baubeginn die Zwischenlagerhallen. Eine Menschenkette und eine Wendlandblockade im Frühjahr 1984 können den ersten Transport nicht abwenden. Zwei Jahre nach Baubeginn, am 8. Oktober 1984 werden Atommüllfässer aus dem AKW Stade per LKW angeliefert. Sitzblockierer können den Transport immer wieder stoppen. Peinlich bei der Ankunft: das Hallentor ist zu niedrig, aus den Reifen muss Luft abgelassen werden.

Blähfässer und Transnuklear-Müll

Ende der 80er Jahre werden Fässer aus dem belgischen Mol von der Hanauer Firma Transnuklear in Gorleben angeliefert. Schmiergelder flossen in Millionen-Höhe: Radioaktiver Müll aus einem havarierten Forschungsreaktor wurde untergemischt, andere Fässer blähen auf oder rosten. Im Januar 1988 schütten Bauern Mutterboden in die Toreinfahrt des Zwischenlagers und pflanzen Bäume. 8.000 Menschen demonstrieren im März 1988 gegen die Atomtransporte, die wie „geschmiert“ laufen. 1.296 Fässer müssen wieder ausgelagert und neu konditioniert werden. Das 300-Leute-Konzept wird entwickelt: per Selbstanzeige erklären Hunderte, dass sie sich bei einem Castor-Transport querstellen werden.

PKA und gesamtdeutscher Protest

Eine Anlage zur Konditionierung hochradioaktiver Abfälle soll als Passstück zwischen Zwischenlagerung und Endlagerung errichtet werden, die Pilot-Konditionierungsanlage (PKA). Am 2. Februar 1990 besetzen Hunderte das Baugelände. Wenige Tage später, am 5. Februar, kommen zur ersten deutsch-deutschen Anti-Atom-Demonstration 5.000 Menschen nach Gorleben. Im Gegenzug demonstrieren am 11. März 7.000 Menschen in der DDR gegen den Bau des AKW Stendal.

Castornix

Der erste Castor soll 1994 aus dem AKW Philippsburg angeliefert werden. Pleiten, Pech und Pannen beim Beladen des Behälters verzögern den Transport und wecken widerständiges Leben. Hütten werden gezimmert, Planen zwischen den Bäumen gespannt, aus dem Unterholz erwächst im Sommer die Trutzburg„Castornix“. Trotz eines Versammlungsverbots gehen am 19. November ca. 2000 Menschen auf die Bahngleise. Aus einer nächtlichen Demonstration am 21. November vor dem Zwischenlager wird für 3000 Menschen ein Freudenfest, weil das Verwaltungsgericht Lüneburg den bevorstehenden Transport in letzter Minute stoppt.

Die fünfte Jahreszeit

Am 24.April 1995 um 20.05 Uhr ist es soweit, der erste Castor-Zug fährt in Philippsburg los. 6.500 Polizisten und BGS –Beamte bahnen im Wendland dem Transport unter Einsatz von Schlagstöcken und Wasserwerfern den Weg ins Zwischenlager.

Die kommenden Jahre sind geprägt vom Castor-Protest. Mit einer kurzen Unterbrechung, denn Bundesumweltministerin Angela Merkel stoppt die Transporte, weil die Behälter äußerlich kontaminiert sind. 10.000 Menschen stellen sich quer, als im Jahr 2001 die Transporte wieder aufgenommen werden. Die Transporte werden nun gebündelt und in den kalten Monat November verlegt. Die größten Polizeieinsätze mit bis zu 18.000 Beamten in der Nachkriegsgeschichte können den Widerstand nicht bändigen.

Wir fahren nach Berlin

schwarze_seite„Berlin, Berlin – wir fahren nach Berlin!“ Im Jahr 2009 startet der größte Anti-AKW-Treck in der Geschichte der Bundesrepublik nach Berlin. Am 29. August geht es in Gorleben los. Weitere Stationen sind der Schacht Konrad und die havarierten Lagerstätten Asse II und Morsleben. Am 5. September demonstrieren 40.000 Menschen in der Hauptstadt für den Atomausstieg und gegen Gorleben, eskortiert von mehr als 400 Traktoren.

Der längste Transport in der Geschichte …bringt er die Wende?

Die CDU/FDP-Regierung verlängert die Laufzeiten der Atomkraftwerke und hebt das Gorleben-Moratorium auf. Der 12. Castortransport im November 2010 braucht daraufhin 92 Stunden. Bauern hatten sich in einer Betonpyramide angekettet, 2 Greenpeace-Mitglieder hatten sich in einem als Bierlastwagen getarnten Lkw an einen Betonblock fixiert. Im Herbst 2011 kommt es zu erbitterten Auseinandersetzungen um den 13. Castor-Transport. 20.000 Menschen demonstrierten in Dannenberg für die Stilllegung aller Atomkraftwerke und gegen Gorleben als Atommüllendlager. Neuer vorläufiger Rekord: der Konvoi mit dem Strahlenmüll brauchte 125 Stunden und 49 Minuten von La Hague bis ins Zwischenlager.

Die „neue“ Endlagersuche

2011: Betonpyramide in Hitzacker

2011: Betonpyramide in Hitzacker

Zwischenlager werden zu Dauerlagern, aber ein „Endlager“ für hoch radioaktive Abfälle ist nicht in Sicht. Es sei denn, es hieße Gorleben. 2014 verabschiedete der Deutsche Bundestag das Standortauswahlgesetz (StandAG). Gorleben blieb – allen geologischen Zweifeln zum Trotz – im Topf und soll nun mit anderen Standorten verglichen werden. Castor-Transporte nach Gorleben zwar wurden gestoppt, um „Vertrauen“ im Wendland zu schaffen. Zwei Jahre lang debattierte die Endlagerkommission des Deutschen Bundestages. Ab und zu platzte einem der Vorsitzenden, Michael Müller, der Kragen und er sagte laut, was alle ahnten, dass offen und verdeckt es immer wieder um die Gretchenfrage ging: Wie stehst du zu Gorleben? Wie soll man da Vertrauen in einen gesteuerten Prozess haben, bei dem am Ende der Parteien- und Länderegoismus, aber nicht die Geologie von Bedeutung ist.

Der Salzstock fliegt raus

Misstrauen war also das Gebot der Stunde! Gorleben blieb im StandAG gesetzt, die Offenhaltung des Bergwerks wurde umgesetzt, damit setzen wir uns nun auseinander: auf der Straße, auf Konferenzen, in Berlin. Doch dann kam die Überraschung: die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) sortierte den Standort im ersten Vergleichsschritt 2020 aus. Mit den Argumenten, die schon seit Auswertung der Tiefbohrungen Anfang der 80er Jahre galten. Was für ein Erfolg

Der Müll bleibt

113 Castorbehälter und daneben ein Lager für schwach- und mittelaktive Abfälle bleiben. Solange, bis ein Endlager den Betrieb aufnimmt. Stand heute: 2080!

Unsere Überlebens- und Aktionskunst ist gefordert, um der Suggestion nicht zu erliegen, dass die Bundestagsparteien es schon richten werden. Ein Dauerthema.