Deutschland, ein Sommermärchen

Irgendwann in diesem Juli, irgendein Marktplatz, irgendwo in Deutschland. Von Ferne kündet ein wummernder Diesel, dass hier gleich Großes geschehen wird. Und dann biegt er aus irgendeiner engen Gasse auf den historischen Platz ein – Stern voraus: der große Bus mit den Atomphysikern, Managern, Ingenieuren und Arbeitern, deren Aufgabe es ist, zu prüfen, ob dieser hübsche Platz nicht eignungshöffig ist. Ob hier, im Zentrum von Erfurt, München, Köln oder Münster, nicht eines der vielen notwendigen Atommüllendlager entstehen könnte. Denn in Gorleben, so sagen die aus dem Bus, da gehe es nicht, und in der Asse – na, man wisse ja!

Zischend öffnet die Hydraulik die Türen des Endlager-Erkundungsbusses. Heraus strömen Frauen und Männer in weißen Schutzanzügen und mit gelben Helmen. Sie beginnen ohne zu zögern mit ihrer Arbeit.

Gellend laut werden Messwerte quer über den Platz gerufen, quäkend kommen Anweisungen aus dem Megaphon. Arbeiter senden Erschütterungen ins Erdreich, Ingenieure horchen den Boden auf seismische Bewegungen ab. Nur unbedarften Naturen sieht das Hüpfen auf der Stelle und das versonnene Lauschen am Gartenschlauch aus wie Kinderspiel. Fachleute dagegen erkennen sofort die wissenschaftliche Arbeit und sehen die Parallelen zu den fundierten Erkundungsarbeiten, wie sie seinerzeit auch den Projekten in Gorleben und in der Asse vorausgegangen waren. Die Ingenieure messen auch noch dem kleinsten Detail große Bedeutung bei, ja, selbst die Winddrift wird auf Basis des aufwändigen, so genannten „Nasser-Finger-Tests“ berechnet. Bei einem derart sensiblen Thema, so sagen die Weißkittel, müsse man jede erdenkliche Fehlerquelle von vornherein ausschalten. Ein atomares Debakel? Nicht in diesem Land!

Ein Manager der Atomwirtschaft im feinen Zwirn erläutert unterdessen den verstört dreinblickenden Anwohnern, was hier gerade geschieht und auch, dass die Wahrscheinlichkeit sehr hoch ist, dass hier, „ja, direkt unter Ihnen, meine Damen und Herren“, der lokal produzierte Atommüll am besten, billigsten und schnellsten eingelagert werden kann. Er gratuliert den Anwesenden zu ihrem Glück, eine so wichtige Aufgabe der Gesellschaft übernehmen zu dürfen!

Die Seismologen haben ihre Erkundung mittlerweile eingestellt und erklären das Erdreich unter dem gemütlichen Marktplatz für grundsätzlich geeignet, Atommüll aufzunehmen. Unverzüglich macht sich das Montageteam daran, mitten auf dem Marktplatz das Endlagersuchgerät aufzubauen. Die ersten Fässer mit hochradioaktivem Müll stehen schon bereit und strahlen tapfer vor sich hin. Es eilt also ein wenig mit dem Lager.

Doch nicht lange, und das gelbe Strahlungs-Warnschild kündet für alle sichtbar von der erfreulichen Wandlung des Platzes: Weg vom Konsumterror des Samstagvormittags, hin zum wahren Dienst am Vaterland.

Ein honoriger Herr im weißen Kittel ist unschwer als Wissenschaftler zu erkennen, und tatsächlich wird er von allen ehrfürchtig mit „Professor“ angeredet. Er tritt aufs Podium und erklärt den skeptischen Naturen im Auditorium in anschaulichen Bildern, wie einfach abgebrannte Brennstäbe „zu schreddern, pardon, wiederaufzubereiten, zu transportieren und zu lagern sind.“ Einige wenige Zweifler indes stören das Bild, aber das sei ja immer so, sagt „der Professor“, manche müsse man halt zum Glück, nun ja, zwingen. Und wo das nicht hilft, sorgen Girlie-Band und Mimen für Ablenkung bei der bekanntermaßen rebellischen, jüngeren Generation.

Am Ende dieses Sommermorgens in Erfurt, München, Köln oder Münster gibt es keinen Zweifel mehr, dass ein neuer Standort für ein atomares Endlager gefunden ist. Die Atomphysiker, Manager, Ingenieure und Arbeiter feiern den Erfolg ihrer Bemühungen, der ihnen schon so häufig vergönnt war – irgendwann in diesem Juli, auf irgendeinem Marktplatz irgendwo in Deutschland.

Text: Andreas Conradt
Fotos: PubliXviewinG