Bürgeraufstände in Deutschland***Die neuen Revolutionäre

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Stuttgart 21, Hamburger Schulprotest, Anti-Atom-Widerstand. Eine neue bürgerliche Bewegung misstraut den Volksvertretern. Ist das der Anfang oder das Ende der Demokratie? VON Peter Unfried
STUTTGART/HAMBURG/LÜCHOW taz | Wenn der Alleinherrscher Gaius Julius Cäsar den Senat betrat, wurde es umgehend still. Diese Stille war tödlich. Für die römische Republik. Und im März 44 vor Christus auch für Cäsar. „Die 23 Messerstiche gegen Cäsar sind auch Resultat der Zerstörung senatorischer Öffentlichkeit. Wenn keiner mehr reden kann, gibt es nur noch Verschwörung.“
Oskar Negt sitzt in einem Sessel am Fenster seines Arbeitszimmers in Hannover und ist bei einem seiner Lieblingsthemen: die Res publica amissa, vor der Cäsars Antipode, der Republikaner Cicero, vergebens warnte, die Vernachlässigung der Institutionen, an deren Ende der Verlust der Republik steht. „Insofern“, sagt er, „ist der Protest gegen den Abriss des Bahnhofs in Stuttgart für mich auch ein Symbol für eine rebellierende Öffentlichkeit, die unterschlagene Themen wieder öffentlich macht.“
Negt, 76, ist Vertreter der kritischen Theorie. Und klassischer SPD-Linker. Er promovierte bei Theodor W. Adorno, war einer der Anführer der Protestbewegung von 1968, danach 32 Jahre Universitätsprofessor und hat in diesen Tagen das Buch „Der politische Mensch“ herausgebracht. Darin beschreibt er die brüchig gewordene repräsentative Demokratie in der Bundesrepublik und skizziert als einzigen Ausweg unverdrossen die politische Bildung der Bürger. Falls Negt das Land dafür noch nicht zu Füßen liegen sollte, so tut es zumindest in diesem Moment sein Hund Luis.
Demokratie, das ist für Negt eine echte Öffentlichkeit, nicht eine, „die auf Talkrunden reduziert ist“. Das gefällt ihm am bürgerlichen Protest gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21: Sie seien nicht nur dagegen, dass der alte Bahnhof abgerissen wird. Es gehe um die „Scheingesetze der Globalisierung“, das „Spannungsverhältnis zwischen Globalisierung und Lokalisierung“, die „Polarisierung zwischen Peripherie und Zentrum“, das „zunehmende Gefühl der eigenen Ohnmacht“ und um die Art, wie „Politiker Menschen behandeln“.
Es sei ein wachsender Protest gegen die Verselbstständigung der Institutionen und es sei die Herstellung einer sich erweiternden Öffentlichkeit. Der lokale Ort bringe die Leute auf die Straße, doch im Lauf des Protests erweitere sich die Urteilsfähigkeit auf Weltläufigkeit.
Dass es sich dabei um einen schichten- und milieuübergreifenden Protest handelt, wie derzeit aufgeregt diskutiert wird? Für Negt ist es selbstverständlich, dass „moderne Protestbewegungen keine klare Schichtung mehr haben“. Ein Protest derer, die als in der Gesellschaft angekommen gelten, nicht der Deklassierten? Auch nichts Neues.
Und dass in Hamburg gar Großbürger gegen den (Stadt-)Staat revoltieren und mit einem Volksentscheid die geplante Schulreform verhindern? „In Hamburg geht es unter dem Deckmantel einer Bürgerinitiative um die Befestigung eines privilegierten Schulzusammenhangs.“ Ist das eine moralische Deutung? „Nein, das ist eine politische Deutung.
In Stuttgart wird die Urteilsfähigkeit im Bezug auf das Allgemeinwesen erweitert, in Hamburg wird sie gegen alle Pisa-Studien, gegen alle begründeten Einsprüche von Pädagogen verengt auf einen privilegierten Zusammenhang.“ Dass die Entfremdung der Gesellschaft mit ihren Parteien und Repräsentanten voranschreitet, ist im Moment Konsens.
Die Bewegungen gehen dabei in alle Richtungen: Gegen Atomkraft, gegen Verlängerung der Grundschule, gegen städtischen Wohnraumverkauf, für und gegen Rauchverbot, für und gegen Thilo Sarrazin. Wer die gemütliche Links-rechts-Orientierung braucht, wird verzweifeln. Aber grundsätzlich haben immer mehr Leute das Gefühl, Politik arbeite intensiver und professioneller – aber nur daran, sie zu bescheißen.
Das ist bei den Gegnern von Stuttgart 21 so, das ist der Umbau des Stuttgarter Haupt- und Sackbahnhofs in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof. Dazu kommt die Neubaustrecke Stuttgart-Ulm und ein Stadtentwicklungskonzept auf den Flächen, auf denen bisher Gleise liegen. Kostenannahme derzeit: 4,5 plus 2,9 Milliarden Euro. Die Zahlen wechseln, aber alle sind steigend. Das Projekt wurde von einer demokratisch legitimierten Mehrheit aus CDU, FDP und SPD beschlossen.
Ende August hat man gegen den Protest der Bürger am Nordflügel mit den Abrissarbeiten begonnen. Am Kurt-Georg-Kiesinger-Platz versammeln sich montags und freitags die Gegner von Stuttgart 21. Es sind laut Veranstalter inzwischen auch schon mal 70.000.
An diesem Montag regnet es stark. Trotzdem harren die Leute aus und lassen sich auch von unterirdischem Kabarett gegen den unterirdischen Bahnhof nicht vertreiben. Wenn die Rede auf Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan Mappus oder Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster kommt, skandieren die Leute: „Lü-gen-pack. Lü-gen-pack“. Sie machen sich Luft. Das tut ihnen gut. Aber es hat auch etwas Beklemmendes. 60-Jährige, 70-Jährige, Frauen und Männer, die man früher „bürgerlich“ nannte oder kleinbürgerlich oder angepasst. Und nun ist für sie die von ihnen mehrheitlich und jahrzehntelang gewählte politische Klasse nur noch ein „Lü-gen-pack“. Ist das der Anfang oder das Ende der Demokratie? Bei dieser Frage verstummt zunächst selbst Oskar Negt.
Für Walter Sittler ist die Rhetorik nur eine Reaktion auf das „Benehmen“ der Politiker. „Im Moment wird noch ein bisschen zurückbeleidigt“, sagt er, „weil man das für die seelische Gesundheit braucht.“ Sein Ding ist das nicht. Sittler, 57, Schauspieler, lebt in Stuttgart und gilt inzwischen als „Gesicht“ dieses Protests. Bundesweit populär wurde er als Partner von Mariele Millowitsch in der ZDF-Vorabendserie „Girlfriends“. An den Protestabenden ruft er schon traditionell zum „Schwabenstreich“, eine Minute kollektiven Lärmens, mit der die Gemeinschaft sich rituell konstituiert. Später sitzt er im Hotel Graf Zeppelin, mit Blick auf die Baustelle Bahnhof. Die Leute sind jetzt weg, die Bagger nicht.
„Entspannter“ Protest ist sein Motto, gespeist von kalter Wut, zielgerichtet, aber auch mit Lustfaktor. Vorbild für Sittler ist Leipzig 1989 mit seiner „unwiderstehlichen Gewaltfreiheit“.
Es sind ja derzeit viele, aber nicht alle von den Stuttgartern begeistert. Die andere Position vertritt etwa der Publizist Hajo Schumacher. Für ihn ist das nicht neu politisiertes Bürgertum, sondern es sind „Wellness-Protestler“, die nach zwanzig Jahren Desinteresse nun „Woodstock nachspielen“ und dabei doch nur „undemokratische Dickköpfigkeit“ offenbaren. Für den FAZ-Leitartikler Georg Paul Hefty sind die Planer von Stuttgart 21 „progressiv“, die Gegner fortschrittsfeindliche Heuchler.
Für Sittler holen sich „die Stuttgarter ihr Land zurück“. Und ihre fahrlässig abgegebenen Bürgerrechte. Das sei eine Stärkung der Demokratie. Vor allem: Es sei nicht nur eine Bewegung gegen, sondern auch für etwas. Gegen ein Projekt, das im 20. Jahrhundert für das nächste entwickelt wurde, das ihnen aber unter den veränderten Bedingungen des Projekts und des 21. Jahrhunderts viel mehr Nachteile als Vorteile zu haben scheint. Gegen Politiker, zu denen im Moment kein Vertrauensverhältnis mehr besteht. Für eine andere Definition von Fortschritt und Lebensqualität: sozialer, kultureller, weniger technologisch.
Sittler ist in Chicago geboren und damit auch US-Bürger. Abitur in Salem. In den 80ern schrieb er mal einen Protestbrief gegen Atomkraft und demonstrierte an einem schönen Tag mit einer neuen Liebe gegen Pershing-Raketen. Und er wählte zweimal für die SPD Bundespräsidentenkandidaten. Inzwischen kann er tagsüber in München proben, abends steht er am Bahnhof. Seine Frau auch. Kann er doch mal nicht, vertritt ihn sein Sohn. Woher kommt diese Verve?
Er beschreibt eine Entwicklung von ersten Zweifeln über das erste Pflanzen eines Protestbäumchens bis zu dem Tag, an dem er sich sagte: „Irgendwann gilt es.“ Irgendwann war jetzt. „Es ist ein Kampf, aber wenn man diese Gemütlichkeit, dieses Schlappe ablegt, dann kann man richtig etwas bewegen.“ Sittler kennt alle Argumente: Dafür und dagegen. Er ist sicher, dass es Profiteure des neuen Bahnhofs jenseits der als Clique erachteten Politik und Wirtschaftsunternehmen nicht gibt. Seine Erkenntnis: Er muss die gewählten Politiker kontrollieren. Sein Ansatz: „Ich vertraue Politikern, das muss man, aber man schaut an, was sie tun und sagt: das geht. Und das geht nicht.“
Während im Fall Stuttgart nicht jedem klar ist, woraus sich die Intensität des Protests speist, ist die Quelle in Hamburg sichtbar. Eltern sorgen sich um die Zukunft ihrer Kinder – das müsste grundsätzlich die stärkste Motivation für Engagement sein. Ist es aber nicht in allen Bereichen der Gesellschaft.
Nachdem im Juli ein Volksentscheid mit 276.000 Stimmen die geplante Schulreform der schwarz-grünen Regierung verhindert hatte, war für viele klar, dass es sich um einen Sieg gut Verdienender und gut Gebildeter handele, gegen die Interessen weniger Verdienender und weniger Gebildeter. Die Initiative „Wir wollen lernen“ nennen Kritiker „Wir wollen unter uns bleiben“. Es ist ihr aber mit einer professionellen Kampagne gelungen, den Wechsel von vier auf sechs Grundschuljahre für alle zu verhindern. Gegen alle im Senat vertretenen Parteien.
Dr. Walter Scheuerl ist der Anführer der Hamburger Bürgerrevolte. Der Rechtsanwalt hat seine Kanzlei an der Großen Bleiche. Er empfängt dort in einem Besprechungsraum. Was treibt ihn an? Als Sohn einer Lehrerin und des progressiven Erziehungswissenschaftlers Hans Scheuerl habe er „eine gewisse Affinität“ zum Thema.
Er engagierte sich mit Beginn der Schulzeit seiner beiden Kinder als Elternvertreter. Seit Jahren ist Scheuerl, 49, Elternratsvorsitzender am Gymnasium Hochrad, gelegen im Villengebiet von Othmarschen. „Die Schule ist für Kinder und Jugendliche mit das Wichtigste im Leben“, sagt er. „Mich da auch als Vater zu engagieren, bringt mich den Kindern an dieser Stelle thematisch nah.“ Dass er selbst „durch und durch Gymnasium“ sei, wie der Spiegel schrieb, hält er für „Spiegel-Stil“. Er sei auf einem „normalen naturwissenschaftlichen Gymnasium“ in Hamburg gewesen. Das waren damals neun Jahre. Durch G 8 sind es nur noch acht, mit Primarschule wären es nur noch sechs wie in Berlin jetzt schon.
Der Vorwurf, dass hier Eltern zwar engagiert sind, aber nur im Vertreten der familiären Interessen gegen die Interessen der Schwächeren, die für einmal doch tatsächlich die Politik vertrat? Scheuerl lächelt. Die Vermutung, es gehe den Bürgern darum, die eigenen Kinder von den Kindern mit Migrationshintergrund fernzuhalten, sei „nun wirklich bodenloser Unsinn“. Seine Interpretation des Wahlergebnisses: Der Protest gegen weniger Gymnasium wurde von allen Schichten getragen.
Scheuerl ist Medienanwalt und bestens vernetzt. Auch Sachkritiker geben zu, er sei außergewöhnlich gut in dem, was er macht, das heißt erfolgreich für die, die er vertritt. Er kann Opponenten sicher bis zur Weißglut reizen, so cool ist er. Oder so cool kann er tun. Die grüne Bildungssenatorin Christa Goetsch hat er am Nasenring durch die öffentliche Arena gezogen. Bisher. Da ist mal einer, der sich nicht als hilfloses Objekt in den Klauen abgehobener Politiker sieht.
Hält Scheuerl die Politik für so auf den Hund gekommen, dass die Bürger selbst ranmüssen? „Das ist zu pauschal“, sagt er. „Aber bei den handelnden Personen in Hamburg hat man den Eindruck, dass der Anteil derer, die frei von jeder fachlichen Kompetenz auf diesen Posten sitzen, leider sehr groß ist.“ Ein echter Scheuerl-Satz.
Er würde seine Landesregierung nicht wie die Stuttgarter ein „Lü-gen-pack“ nennen. Das passte auch nicht zu seinen Manschettenknöpfen, auf denen Berge und ein Leuchtturm von seiner Liebe zum Wandern und Segeln künden. Aber auch sein Respekt ist begrenzt. Er beklagt Parteienproporz, Opportunismus und Machterhalt aus Dienstwageninteresse, speziell bei den Grünen. Antrieb für sein Handeln war aber der Eindruck, von der CDU betrogen worden zu sein. Aus Sicht von Scheuerl hatte die CDU den im Wahlkampf versprochenen Erhalt der Gymnasiumsverhältnisse zugunsten von „schön vielen Senatorenposten“ in einer Koalition mit den Grünen aufgegeben.
Unlängst hat Scheuerl die Gründung einer eigenen Partei in Aussicht gestellt beziehungsweise war so verstanden worden, obwohl er das „nie gesagt“ hat. Es ist die Reaktion darauf, dass aus seiner Sicht die Senatorin Goetsch die abgewählte Reform weiterbetreibt.
Sein Gedanke: Wenn das die CDU weitere Wähler kostet, könnte es bei der nächsten Wahl zu Rot-Grün-Rot kommen. Und dann müsste man, also er, mit dem Schlimmsten rechnen: der Gesamtschule. Deshalb jagt er dieser „Kaste von Berufspolitikern“ prophylaktisch schon ein bisschen Angst ein. Die Initiative diskutiere, „ob man darauf so reagieren muss, dass man auf der politischen Ebene eine sachorientierte Fraktion entgegenstellt“. Das ist wieder so ein echter Scheuerl-Satz.
Kerstin Rudek hat auch ein Schulproblem in der Familie. Sie sitzt am Steuer ihres Kleinbusses und erzählt von furchtbaren Stundenplänen und endlosen Schultagen. Um sieben aus dem Haus, um halb acht abends zurück. Rudek ist geschieden, hat sechs Kinder, drei leben noch zu Hause, das heißt: zeitaufwendige Chauffeurfunktion. Gerade fährt sie nach Lüchow in das Büro der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg. 900 Mitglieder. Legendär. Sie ist die Vorsitzende. Gerade bereitet sie sich auf den heißesten Castor-Transport seit Langem vor.
Der Kampf gegen Atomkraft und ein Endlager für hochradioaktiven Atommüll läuft seit über 30 Jahren. Im Zwischenlager Gorleben stehen inzwischen 91 Container Atommüll. Ob der Salzstock von Gorleben als Endlager geeignet ist, hat die Bundesrepublik viele Jahre „erkunden“ lassen. Im Jahr 2000 wurde das Projekt offiziell gestoppt. Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) hatte aber bereits im März angekündigt, die Erkundung in Gorleben fortzusetzen. „Ergebnissoffen“, wie er sagte.
Aber vor Ort zählen sie eins und eins zusammen. Durch die von der Bundesregierung beschlossene Laufzeitverlängerung vergrößert sich der Müll um 4.400 auf 21.600 Tonnen bis 2040. Gorleben hat bisher schon 1,5 Milliarden Euro verschlungen. Anderswo finge alles von vorn an. Außerdem: Wo wäre denn ein geeigneter Ort? Alternativerkundungen gab es nie, auch weil sich andere Landesregierungen immer dagegen verwahrt haben.
Rudek ist Jahrgang 1968 und seit dem Tag X im Widerstand. Das war der Tag des ersten Atommülltransports, der 8. Oktober 1984. Seit dreieinhalb Jahren ist sie Vorsitzende der BI. Sie sagt, sie mache in dem „ehrenwerten Ehrenamt“ Stellvertretungspolitik für die Mitglieder nach dem Prinzip „gehorchend befehlen“. Das wünsche sie sich auch von der Politik. „Ich kann heute sagen: Ich verlasse mich nicht drauf, was eine Regierung beschließt und wie eine Regierung sich verhält, weil die kann auch sehr viel falsch machen. Ich sehe, das läuft in eine völlig falsche Richtung und ich setze mich dafür ein, dass das korrigiert wird.“ Etwa so argumentieren auch Walter Sittler in Stuttgart und Walter Scheuerl in Hamburg.
Es seien auch Bewegungen denkbar, die „voll demokratisch sind, aber der Mehrheit schaden“. In der Atomfrage gibt es für sie indes keinen Zweifel, dass „die Menschen nicht gehört werden, sondern dass Politik eine Lobby bedient“. Die Politik sei weit weg von Ängsten und Bedürfnissen der Gesellschaft, dafür nah dran an der Wirtschaft, getrieben vom Willen zum Machterhalt.
Für sie gibt es eine simple Frage, um das Maß an Demokratie zu messen: „Wem tut die Politik mit ihren Entscheidungen einen Gefallen?“
Nicht alle Menschen im Wendland sind gegen Atomkraft und ein Endlager Gorleben. Manche sehen einen Vorteil oder gar eine nationale Verpflichtung. Aber der Protest umfasst alle Bereiche der Gesellschaft. Auch die FDP. Er ist gewachsen, hat Strukturen entwickelt. Die Angst vor Atommüll, der Widerstand gegen die Politik, haben das Wendland und dessen Bewohner verändert. Aus einem CDU-dominierten Zonenrandgebiet wurde eine lebendige „Modellregion“, in der die Wendländer und die Zugezogenen sich daran machten, gesellschaftliche Alternativen zu entwickeln. „Für ein besseres Leben.“ Sagt Kerstin Rudek.
Der Protest ist in der dritten Generation, die Jungen sind mit Castor-Transporten und Polizeikontrollen an der Bushaltestelle aufgewachsen. Sie werden, sagt Rudek, „sich sicher mal in einem größeren Rahmen in die Politik einmischen als das vielleicht in anderen Regionen der Fall ist, weil sie sensibilisiert sind“. Wenn das so kommt, hätte der Castor im Negt’schen Sinne politische Menschen geformt.
Manche mögen ja denken, wenn sich nach dem Wendland nun auch immer mehr Leute in Hamburg oder Stuttgart enttäuscht von der CDU abwenden, so sei das eine rundum positive und begrüßenswerte Entwicklung. Andere sehen in den Unions-Enttäuschten die künftigen Wähler einer neuen rechtspopulistischen Partei. Und Oskar Negt? Sieht eine Welt des Übergangs. Eine Republik wie zu Ciceros Zeiten. Ausgehöhlt, nicht mehr gelebt. Es handele sich um eine kulturelle Erosion und eine politische Sinnkrise, in der die Zweifel zunehmen, ob unsere Form der Demokratie in der Lage ist, die Krisen des 21. Jahrhunderts zu lösen.
Aber: „Wenn sie das nicht kann, werden diese auch von der CDU enttäuschten Menschen nach Auswegen suchen, die alle nicht demokratisch sein werden, die autoritär sein werden, die die entpolitisierten Kräfteverhältnisse stabilisieren.“ Das bringt ihn zu seinem Ceterum censeo, dass Demokratie eine Staatsform sei, die täglich gelernt werden müsse. Einerseits macht ihm Stuttgart Hoffnung, die Res publica amissa zu verhindern. Andererseits: Im Zeitalter des Perikles sei der wirklich erstrebenswerte Mensch das Zoon politikon gewesen, also der politische Mensch. Nach heutigen Umfragen sei es Günther Jauch. Daran sehe man die „gewaltige Depotenzierung kritischer Öffentlichkeit“.
Negt zitiert aus seinem Buch das Politikverständnis des Aristoteles und dessen berühmten Satz: „Nur Götter und Tiere können außerhalb der Polis leben.“ Also außerhalb des Staates, der Politik und der Gemeinschaft.
Da kommt Luis um die Ecke.
„Luis, mach Platz“, ruft Negt, „Luis, mach Platz.“
Irgendwann sagt er: „Der hört nicht.“
Irgendwann geht Luis doch noch in Position.
„Na ja“, sagt Negt freundlich, „das ist Sitz und nicht Platz.“
Es ist besser als nichts