Argumente von Bescheuerten für Bescheuerte

Claudia Roth beschwört die Basis auf ein erfolgreiches Atom-Ausstiegskonzept: „Wir wären doch bescheuert, wenn wir uns diesen Erfolg wegdefinieren würden“. Stephan Hebel liefert Argumente von Bescheuerten für Bescheuerte.
Stephan Hebel ist politischer Autor der Frankfurter Rundschau. Wir dokumentieren diesen Kommentar.

Claudia Roth hat zwischen sich und die Andersdenkenden eine klare Grenze gezogen: Die Andersdenkenden, das sind diejenigen in der eigenen Partei, die die schwarz-gelbe Variante des Atomausstiegs ablehnen wollen. Und die sind offensichtlich „bescheuert“. „Wir“ dagegen, das sind Claudia Roth und die anderen Führungsfiguren der Grünen. „Wir wären doch bescheuert“, hat Claudia Roth gesagt, „wenn wir uns diesen Erfolg wegdefinieren würden“. Wenn das so ist: Hier ein paar Argumente von Bescheuerten für Bescheuerte. Für alle, die heute beim Grünen-Parteitag den Merkelschen Ausstieg ablehnen.

Wir „Bescheuerten“ haben ernst genommen, was die Grünen im April beschlossen: einen Fahrplan zum Umstieg auf erneuerbare Energien bis 2017. Den streben natürlich auch Roth, Künast, Trittin und Özdemir noch immer an. Sie wollen aber trotzdem für eine Laufzeit der letzten Meiler bis 2022 stimmen. Sie finden also entweder fünf Jahre mehr Atomkraft genauso gut wie fünf Jahre weniger, was allerdings nicht sehr grün wäre, sondern eher bescheuert. Oder sie haben wichtige andere Gründe, die längere Laufzeit erst per Parteitag und dann im Bundestag abzusegnen.

Klar, diese Gründe haben sie. Aber mit der Sache, um die es geht, haben die wenig zu tun. Deshalb stellen sie das Gegenteil dessen dar, was die Grünen so stark gemacht hat. Das waren Konsequenz und Glaubwürdigkeit in den Kerngebieten der eigenen Politik, gerade in Sachen Atom. Es war der Verzicht darauf, eigene Inhalte vorauseilend zurechtzubiegen zwecks Anpassung an vermeintliche öffentliche Stimmungen oder vage Mehrheits-Optionen.

Heute lautet das zentrale Argument von Claudia Roth: „Ich überlasse doch diesen Erfolg nicht Frau Merkel.“ Hat irgendjemand verstanden, warum den wahrlich grünen Erfolg des Ausstiegs „wegdefiniert“, wer ihn noch zu vergrößern trachtet? Definiert ihn nicht eher weg, wer sich statt eigener Haltung in einen Konsens um des Konsenses willen treiben lässt?

Wer hat hier von „bescheuert“ geredet?

Etwas gewichtiger, weil sachlich, ist ein anderes Argument von Roth und Co.: Das Merkelsche Szenario ist nicht nur, gemessen an schwarz-gelber Atompolitik vergangener Zeiten, eine historische Wende. Es sieht auch besser aus als zunächst geplant. Beim stufenweisen Abschalten oder bei der Endlager-Suche haben die Länder – vorneweg der grüne Baden-Württemberger Winfried Kretschmann – nennenswerte Verbesserungen erreicht, das stimmt. Aber die Grünen wollten und wollen mehr. Blieben sie ihren guten Traditionen treu – nichts würde sie hindern, diesem Wunsch nach mehr durch ein klares Nein zum Merkelschen Weniger Ausdruck zu geben.

Was sie daran hindert, das sind Überlegungen, mit denen auch andere etablierte Parteien im Übermaß hantieren – nicht gerade zum Vorteil ihrer Wahl-Erfolge.

Erste Überlegung: CDU/CSU, FDP und Teile der Medien würden von der „Dagegen-Partei“ schwadronieren. Sie würden versuchen, ein Nein zum schwarz-gelben Gesetzentwurf umzudeuten in ein Nein zum Ausstieg insgesamt. Allerdings: Was halten die Grünen von sich selbst und ihren Wählern, wenn sie glauben, das könnte verfangen? Wie weit wären sie damals in der Regierung gekommen, wenn sie den Atomkonzernen derart ängstlich entgegengetreten wären? Und anders als damals stehen sie nicht im Zwang zum Kompromiss.

Zweite Überlegung: Verfinge die Sache mit der Dagegen-Partei, dann stünde die Regierungsfähigkeit infrage. Die Grünen als ewige Oppositionspartei. Das wird man ihnen vorwerfen, ja. Aber beweist man Regierungsfähigkeit, indem man sich von den bereits Regierenden möglichst wenig unterscheidet? Zwar soll das Ja zum Ausstieg 2022 von einem Nein zu den unausgereiften schwarz-gelben Umstiegsplänen begleitet werden. Aber warum soll diese Ja-Nein-Mixtur leichter zu vermitteln sein als eine durchgehend klare, eigene Position?

Der Streit geht nicht um Realpolitik oder Fundamental-Opposition, sondern um gute Realpolitik. Zu ihr würde die Erkenntnis gehören, dass bald nicht mehr der Ausstieg als solcher im Zentrum stehen wird, sondern die Frage, wer die besten Konzepte für einen schnellen und demokratisch verträglichen Umbau der Energieversorgung hat. Die Grünen behaupten, diesen Umbau bis 2017 gestalten zu können. Wenn sie jetzt Ja sagen zu 2022, dann können sie im Wahlkampf 2013 plakatieren: Wir schaffen die Erneuerbaren bis 2017, aber die Atomkraftwerke lassen wir bis 2022 laufen. Wer hat hier von „bescheuert“ geredet?