Milchbauer Hasegawa aus Iitate

Nachdem heute keine Straße in das vom Fallout der Atomkatastrophe verseuchte Dorf Iitate frei war, bzw. unser geplanter Bus aus Tokyo wegen der ungewöhnlichen Schneefälle nicht eintraf, kam die erste betroffene Person, mit der wir reden wollten, zu uns. Obwohl es sicher zutreffend ist, kommt mir das Wort „Opfer“ (victim), das man hier verwendet, nur schwer über die Lippen.

Hasegawa San

Hasegawa San

Herr Hasegawa war vor der Katastrophe Milchbauer in Iitate. Er lebte mit seiner Familie und seiner Milchviehherde in dem kleinen Dorf, dessen Natur er als wundervoll bezeichnete und das nur 30 km vom havarierten Atomkraftwerkskomplex Fukushima Daichi entfernt liegt. Heute reist Herr Hasegawa notgedrungen um die Welt, um dieser von dem Schicksal des Dorfes und seiner Menschen zu berichten, denn wo sie einst glücklich lebten, wird heute Plutonium und Strontium gefunden und in der gesamten Präfektur sind Pilze und Waldfrüchte verseucht.

Als der GAU sich ereignete, hatten die Menschen keine Kenntnis vom Ausmaß der Verseuchung oder den Umgang mit der Kontamination und wurden auch überhaupt nicht evakuiert. Die Behörden erklärten die Region für sicher, aber Wissenschaftler der Universität XXX (Prof. Imanaka) vertraten die Auffassung, dass es unmöglich sei, in einer derart verseuchten Gegend weiter zu leben und forderten die Evakuierung. Die Menschen waren in dieser Zeit einer extrem hohen Strahlung ausgesetzt, einen Monat nach dem Unfall wurde die Evakuierung von den Verantwortlichen verfügt. Die ehemaligen Bewohner leben nun verstreut über ganz Japan, Familien und die Dorfgemeinschaft wurden auseinander gerissen und die Tiere mussten getötet werden.

Nach etlichen Anstrengungen der Präfektur und der Verantwortlichen ist Iitate heute ein Vorzeigeobjekt für „Dekontamination“. Die überall präsenten offiziellen Meßstellen zeigen allerdings stets niedrigere Werte an, als unabhängige Messungen. Wo die Messstelle 0,9 microSv/h anzeigt, mass Prof. Imanaka 1 microSv/h, schon zehn Meter neben der Messstelle fanden sich 2,4 microSv/h und noch weiter 3 microSv/h… die Erklärung dafür ist einfach: es wurde lediglich die Erde an der Messstelle ausgetauscht, Messergebnisse wurden so systematisch geschönt. Weiterhin wurde die Messapparatur derart in einer Halbkugel platziert, dass Gamma-Strahlung des Untergrundes nicht in die Messung einfloss. So fanden sich statt 2,53 offiziellen Microsievert pro Stunde tatsächliche 3,14, usw. Während der Ackerboden 5 cm abgetragen wurde, wurden Dächer und Folientunnel mit Papiertaschentüchern abgewischt, eine Praxis, die bei den anwesenden Radiologischen Fachleuten nur ungläubiges Kopfschütteln auslöste. Die kontaminierte Erde wird auf temporären Deponien vor Ort zwischen gelagert. Da es keine ausgewiesenen Zwischenläger gibt, wird Itate mehr und mehr zu einer Region wilder Deponien, auch aus anderen Gebieten. Einen Plan, was mit den Deponien geschehen, oder einen Zeitpunkt, wann sie wieder aufgelöst werden sollen, kann die Regierung nicht mitteilen.

Obwohl nun in einer Ortschaft die Dekontamination für beendet erklärt wurde, fand ein Einwohner dort alleine 10 Stellen mit unverändert hohen Werten, eine davon mit ungefähr 60 microSv/h. Herr Hasegawa äußerte in gewohnter japanischer Zurückhaltung „erhebliche Zweifel“ an der Sinnhaftigkeit der Dekontamination! während der jährliche Grenzwert in Japan bei 1 mSv/a liegt, bestehe in Itate ein Wert von 5 mSv/a. Als staatliche Reaktion erwägt man, den Grenzwert nun herauf zu setzen, allerdings nur für Itate…

Dekontaminiert werden nur die Täler, in denen die Äcker, Straßen und Höfe liegen, als Kriterien für eine Rückkehr haben die Einwohner aber die Bedingung formuliert, dass außer den Häusern und Grundstücken auch die Umgebung dekontaminiert wird. Während in Itate und anderen Dörfern der näheren Umgebung über 90% der Bevölkerung nach dem Unfall „nur“ einer Belastung von weniger 2 Microsievert/h ausgesetzt waren, musste die überwältigende Mehrheit der Einwohner von Itate eine Belastung von mehr als 2 Microsievert/h über sich ergehen lassen. Dies war alleine der Tatsache verschuldet, dass erst so spät evakuiert wurde.

Auf unsere Nachfrage antwortete Herr Hasegawa, dass die Opfer aus Iitate als Entschädigung für den Verlust ihrer Höfe, ihrer Milchviehherden und ihrer Gesundheit 100.000 Yen (derzeit ca. 744 EUR) im Monat erhalten, allerdings auch nur solange, wie ihre Höfe noch nicht wieder als „dekontaminiert“ freigemessen wurden…

Die Menschen in den Atomnationen hätten eine Gehirnwäsche durchlaufen, zu glauben, Atomkraft sei sicher. In Japan habe man keine Lehren aus Tschernobyl gezogen, man dachte, der Unfall sei eine Million Kilometer entfernt und AKW’s in Japan seien völlig andersartig, ein solcher Unfall könne dort niemals geschehen. Nun hätten die Bewohner von Itate einfach alles verloren, ihre wundervollen Wälder, ihre Höfe, ihr Leben… Als der Unfall geschah, erklärte sich einfach niemand mehr für verantwortlich. Vor dem Unfall aber hatte sich eben auch niemand für Atomkraft und ihre Folgen interessiert, keiner war informiert und niemand hatte derartige Folgen erwartet. Nur sehr sehr wenige Leute hatten überhaupt geringe Zweifel.

Trotz all seiner Schilderungen stellte Herr Hasegawa zum Schluss jedoch fest, dass auch heute noch die Augen der Japaner für die Folgen verschlossen seien. Zu unserem Entsetzen meinte der Milchbauer, dass vermutlich erst ein weiterer GAU die Menschen in Japan aufwecken werde…