Frau Sugano, Kindergärtnerin aus Date und Mutter von drei Kindern

Inzwischen ließ die Wetterlage es auch zu, die nächste Person zu besuchen, die sich bereit erklärt hatte, uns von der Atomkatastrophe und der Zeit danach zu berichten. Um die Fahrt in die Ortschaft Date anzutreten, war ein großer Reisebus geordert worden, der nun seinen Weg durch das Schneechaos gefunden hatte. Bei strahlendem Sonnenschein war es morgens noch ziemlich frostig. Der Schneematsch des Vortages war flächig übergefroren. Salz findet in Japan offenbar keine Verwendung zur Verkehrssicherung, Umweltschutzgedanken ist dies aber wohl kaum zu verdanken.

Mit einem gewissen emsigen Fleiß werden nur einzelne Parkplätze und vereinzelte Hauseingänge von Eis und Schnee befreit. Für gewöhnlich wird der Schnee dabei nicht nur bedenkenlos auf den Nachbarparkplatz oder vor das Nachbarhaus geschaufelt, es sind auch oft überraschend große Gruppen von Arbeitern, die mit diesen Aufgaben betraut sind. Viel wichtiger, als die eigentliche Arbeit, ist dabei die vorschriftsmäßige Absperrung der Maßnahme und das höfliche vorbei geleiten. Kommt eine kleine aggressive Motorfräse zum Einsatz, ist das auch dringend erforderlich. Erstaunlich, dass die kleinen Motoren das dauernde stoppen und wieder anfahren mitmachen, welches unweigerlich jeder der vielen Passanten auslöst. An Arbeitskräften kann es in Japan kaum mangeln. Viel verdienen wird der Einzelne dabei sicher nicht, wenn nicht das Räumen eines Parkplatzes soviel kosten soll, wie der Neubau..

Mit bewundernswertem Gleichmut steuerte der Fahrer den riesigen Reisebus trotz dicker Eiskrusten und Spurrillen durch die engen Gassen und rückwärts auf den Parkplatz. Dort erfolgten letzte Instruktionen, Greenpeace Japan hatte uns alle vorbildlich mit Dosimetern und Messgeräten ausgestattet. Diese waren so eingestellt, dass sie bei Überschreitung bereits sensibler Grenzwerte Alarm auslösten. Sollte das jemandem von uns widerfahren, sollte man einfach rückwärts in seiner Spur nach dort zurück gehen, wo das Gerät noch unbedenklichere Werte angezeigt hatte.

Überhaupt war auch jederzeit durch den Hamburger Greenpeace-Mitarbeiter und Physiker Heinz Smital sicher gestellt, dass wir Messergebnisse richtig interpretieren konnten und eine fachliche Einschätzung der Gefährdung bekamen. Sollten sich hier in meinem blog unerklärliche Daten finden, wäre das alleine meiner Laienhaftigkeit, oder einer Missinterpretation des japanisch-englisch-internationalen Kauderwelsches zu verdanken. So musste bereits einmal nachgearbeitet werden, weil das Mailprogramm den griechischen Buchstaben „My“ nicht transportieren konnte und so aus Micro-Sievert mal eben MilliSievert machte. Im Zweifel gelten hier also die von Greenpeace veröffentlichten Daten.

Während für die Einordnung der Messwerte und die Unterscheidung von Ortsdosis und Dosisleistung in der Besuchergruppe noch Grundlagen vermittelt werden mussten, zeigten sich viele Passanten gut informiert und fragten auch bisweilen einmal nach, wenn sie die Messgeräte im Feldeinsatz sahen. Dies war nicht nur relativ ungewöhnlich in der sonst so zurückhaltenden japanischen Gesellschaft, alle Fragenden konnten die Informationen offenbar auch richtig zuordnen. Greenpeace schien dabei auch ganz berechtigt eine hohe Glaubwürdigkeit in der japanischen Bevölkerung zu besitzen.

Martin in Japan, Feb. 2014

Martin mit Frau Sugano

Als wir an einem öffentlichen Gebäude in Date eingetroffen waren, wo wir unsere nächste Zeugin Frau Sugano in einem Sitzungsraum treffen sollten, verzögerte sich der Beginn ganz unjapanisch. Der Grund war, dass unsere Berichterstatterin sich erst einmal sammeln musste, um nicht in der Öffentlichkeit von ihren Gefühlen überwältigt zu werden, ein Umstand, der in Japan keinen seriösen Eindruck machen würde. Uns allen war eine solche Betroffenheit dabei nur allzu verständlich. Viel befremdlicher erschien uns oft, mit welch großer Fassung uns so schreckliche Umstände und Erlebnisse berichtet wurden.

Bis zur Explosion der Atommeiler von Fukushima Daiichi lebte Frau Sugano mit ihrer Familie in der Ortschaft Date, zwischen fukushima daiichi und der Stadt Fukushima, ca. 50 bis 60 km vom AKW entfernt. In ihrem Haushalt lebten neben ihrem Man und ihren drei Kindern auch noch die Großmutter, die auf die Kinder aufpasste, wenn die Eltern arbeiten waren. Frau Sugano arbeitete als Erzieherin im Kindergarten in Date. „Wir hatten ein geregeltes Leben“, sagte die engagierte Mutter, „nach der Schule gingen wir ins Freie, spielten und beobachteten die Natur“, abends kam die ganze Familie zusammen und kochte gemeinsam.

Die unmittelbaren Tage der Katastrophe überging unsere Zeugin in ihrer Erzählung, es war zu spüren, dass auch nach drei Jahren das Trauma der Evakuierung noch zu groß war. Nach dem „Unfall“, wie das Ereignis hier genannt wird, wurde die Evakuierungsanordnung bald wieder aufgehoben, aber die Familie kehrte anfangs nicht zurück, weil Frau Sugano die radiologischen Messwerte weiterhin als zu hoch für ihre Kinder erachtete. Auch in der Notunterkunft achtete sie sehr genau darauf, dass ihre Kinder nicht im Freien spielten, besorgte Essen von außerhalb der Präfektur und gab den Kindern Lunchboxen mit sauberem Essen zur Schule mit.

Die Präfektur ermittelte nun an zwei Plätzen an Frau Suganos Haus, einen direkt vor der Eingangstür und einen in der Mitte des Gartens, die Strahlenbelastung. Die Messungen ergaben zwar einen „erhöhten“ Strahlenwert von 2,4 MicroSievert, aber es wurde verkündet, dass keine gesundheitlichen Folgen zu befürchten seien und in Ermangelung besserer Kenntnis musste Familie Sugano dem notgedrungen Glauben schenken. Eine Belastung der Wohnumgebung bis 2,8 Microsievert wurde amtlich für hinnehmbar erklärt und mit einer solchen Freimessung auch gleich die klägliche Opferhilfe eingestellt, die es den Flüchtlingen überhaupt ermöglichte, im Exil zu überleben. Frau Sugano musste wieder ihre Arbeit im Kindergarten von Date aufnehmen und ihre Kinder zur Schule schicken. Bei der Arbeit weinte sie ständig aus Sorge um die Kinder, um ihre eigenen und jene, die ihr anvertraut waren.

Auf Drängen der Familie wurde von der „emergency agency“ der Präfektur am 12.06.2012 eine weitere Messung durchgeführt. Bei dieser Messung ergaben sich an der Eingangstür in einem Meter Höhe 2,4 und einem halben Meter 2,6 Microsievert, mitten im Garten sogar 3 microSievert auf einem Meter und 3,4 auf einem halben Meter. Abgesehen davon, dass es sich ohnehin nur um punktuelle Messungen handelte, „berechtigten“ auch diese bedrohlichen Strahlenwerte nicht zur Evakuierung. Es mussten erst Unmengen von Formularen ausgefüllt werden und die amtliche Bescheidung abgewartet werden. Familie Sugano, die nun über ein Jahr dem radioaktiven Fallout des Atomkonzerns TEPCO ausgesetzt war, wartete nun nicht mehr, als das Messergebnis eintraf. Sie verließ noch am selben Tag, dem 12. Juli 2012, Date und zog in den Oguni Distrikt.

Im Nachherein wurde die Flucht wegen der punktuellen Überschreitung des verfügten Grenzwertes amtlich anerkannt, das Nachbarhaus aber wurde zum Beispiel nicht evakuiert. Auf diese Weise entstanden große Zwistigkeiten unter den Einwohnern, weil je nach willkürlichem Meßpunkt ein Haushalt Kompensation erhielt, der andere aber nicht.

Mit dem Fortgang der in Date durchgeführten Dekontaminierung wurde die amtliche Evakuierung schließlich wieder aufgehoben. Am 14. Dezember 2012 wurde öffentlich im Fernsehen verkündet, dass keine Gefahr mehr bestehe, eine Jahresdosis von mehr als einem Millisievert zu erleiden, der Grenzwert werde nun wieder eingehalten. Familie Sugano stimmte der Aufhebung der Evakuierung, auch mit anderen empörten Einwohnern, in keiner Weise zu und sie sprachen mit den Stadtverordneten. Es stellte sich heraus, dass man lediglich eine Messung nach lediglich einer „Dekontamination“ gemacht hatte, welche hilflose Putzmaßnahme das auch immer gewesen war. Nachmessungen ergaben, dass es alleine zwei hot-spots, punktuell erhöhte Strahlenbelastungen, von 40 MicroSievert und gar von 70 microSievert in einem Meter Höhe gab und die Stadt überhaupt nur an zwei Plätzen gemessen hatte. Frau Sugano schenkte nun den amtlichen Stellen keinen Glauben mehr und wollte ihre eigenen Messungen durchführen. Sie machte zwei Probeentnahmen am 19. März am Regenfallrohr und am 22. April 2013 im Garten und sandte diese an zwei unabhängige Institute, darunter die Universität Kansei. Am Regenfallrohr war die Erde mit 180.000 Becerel je Kilogramm belastet, im Garten mit 1,24 Millionen Becerel je Kilogramm. Zum Vergleich: ab einer Belastung von 10.000 Becerel bräuchte es in Deutschland eine atomrechtliche Genehmigung für das Hantieren mit dem Material, es wäre quasi Strahlenmüll…

Frau Sugano konnte nun endgültig nicht mehr glauben, dass die ganze Zeit dazwischen, als man sie dazu gedrängt hatte, in ihre Gemeinde zurück zu kehren, alles „in Ordnung“ gewesen wäre. Sie floh nun das zweite Mal, diesmal wohl endgültig, mit ihren Kindern aus der verstrahlten Zone.

Nach dieser bedrückenden Leidensgeschichte herrschte erst einmal betroffene Stille in der Gruppe der internationalen Zeugen. Immer wieder während der Erzählung waren technische Zwischenfragen gestellt worden. Diese dienten natürlich auch dem Zweck, Messdaten korrekt wieder zu geben und richtig einzuordnen. Sie halfen aber auch, das Gespräch zu „versachlichen“ und das beklemmende Mitgefühl für eine Mutter in derartiger Not nicht hochkochen zu lassen. Die Trauer und besonders die Wut und Empörung im Raum waren fast stofflich zu fassen. So wurden die ersten Nachfragen nun dazu gestellt, wie Frau Sugano und ihre Kinder die enormen Belastungen ertragen hatten. Gemeint waren die psychischen Belastungen, über radiologische Gesundheitsschäden mochte natürlich niemand spekulieren, aber machte sich sicher jeder im Raum seinen stillen Gedanken.

Frau Sugano berichtete, wie schwer es gewesen sei, Vorsichtsmaßnahmen gegenüber ihren Kindern durchzusetzen, besonders, wenn anderen Kindern in anderen Familien Dinge erlaubt wurden, die sie für unverantwortlich hielt. Ihre Kinder akzeptierten anfänglich auch die „eigenmächtige“ Evakuierung nicht, sie weigerten sich vor allem, ihre Schule und ihre Schulfreunde zu wechseln. Als Eltern mussten die Suganos ihre Kinder zu deren eigenem Schutz zur Flucht zwingen… Bei ihrem Sohn führten die psychischen Belastungen im Umfeld von Atomkatastrophe und Flucht dazu, dass er wegen Stresssymptomen für eine Zeit in stationäre Behandlung gehen musste.

Das Leben der Familie änderte sich auch im Exil von Grund auf. Hatte sie in Date in einem eigenen Haus mit Garten gelebt, wo sie viel Zeit im Freien verbracht hatte, lebten sie nun in einer engen Mietwohnung. Darüber hinaus fehle Frau Sugano die ganze Zeit, welche sie sich mit den schwerwiegenden Problemen herum schlagen müsse, dafür, sich um ihre Kinder zu kümmern. Dies sei für sie noch ein Grund mehr, Atomkraft von ganzem Herzen zu hassen. Nicht nur wegen ihrer selbst entschiedenen Evakuierung erhielt die Familie keine Kompensation, auch die klägliche Kompensation für amtlich anerkannte Opfer könnte unmöglich den Verlust an Lebensqualität, Haus, Hof und Dorfgemeinschaft ersetzen. Eine Frage, die sich erst später ganz beiläufig beantwortete, war, dass der Kredit für das verseuchte Haus der Familie in Date ohne Kompensation durch die Verantwortlichen von den Suganos weiter abbezahlt werden muss. Über die mit Sicherheit auch zu erwartenden Gesundheitsfolgen spricht man in Japan garnicht erst, eine kulturelle oder in der Besatzungszeit erzwungene Eigenart, die auch nach den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki auftrat.

Das Schicksal der schwer betroffenen Mutter, die Verantwortung übernahm, wo Betreiber und Behörden sich in Lügen und Ausreden flüchteten, löste enorme Beklemmung und Wut in der Besuchergruppe aus. Auch wenn man japanische Zurückhaltung schon gewohnt war, ließ sich diese Beherrschtheit angesichts der brutalen Realität nur schwer ertragen. Es war deutlich sichtbar, wie sich die internationalen Gäste eine derartige Situation als Eltern und Großeltern angesichts ihrer heimischen Atomanlagen in Frankreich und Deutschland und bestehenden und zum Neubau geplanten Nuklearkomplexen in ihren Herkunftsländern Indien und Korea, sowie des beabsichtigten Neubaus eines AKW an der Ostseeküste in Polen ausmalten. Einer der indischen Zeugen brachte es auf den Punkt, eine Technologie, eine Zivilisation, die nicht mehr in der Lage ist, ihre Kinder zu schützen, hat ihre Daseinsberechtigung verwirkt, sie muss diese verwirkt haben… Andrzej xxx aus Polen bezeichnete die Nutzung der Atomkraft an und für sich als Verbrechen gegen die Menschlichkeit…