30 Jahre und immer noch weise

Als ich vor 30 Jahren frischverliebt und mit nichts als einem Schlafsack unter dem Arm mit viel zu vielen anderen auf die enge Rückbank eines Kleinwagens kletterte, wusste ich noch nicht, in was für eine Region wir fahren würden. Dafür wusste ich fast alles über die unsäglichen Pläne der Atomindustrie und auch, wie viel Sonne täglich ungenutzt auf unsere Hausdächer brannte, wie viel Wind über die Norddeutsche Tiefebene strich und wie viel Wasser Norddeutschlands schönsten Strom, die Elbe, hinunter floss. Das alles hatte ich nämlich in unzähligen Flugblättern und Broschüren nachlesen können, die bisweilen bis zur Unleserlichkeit herum gereicht wurden und auslagen.

Die lange Fahrt durch verschlafene Dörfer erschien mir, wie eine Reise in eine verloren geglaubte Vergangenheit. Eine solche Idylle kannte ich als Städter noch nicht einmal von Sonntagsausflügen, sondern nur von Urlaubsreisen. Wir kamen schon fast im Dunkeln an einem Waldrand an und der besetzte Platz war noch lange nicht in Sicht. Mir wurde klar, dass ich mir vorher überhaupt gar keine Vorstellungen gemacht hatte, wohin wir eigentlich fuhren. Nach langem Fußmarsch durch staubiges Gelände kamen die ersten Fahnen und Bauten in Sicht. Während unser Fahrer erwartet wurde und gleich in einer notdürftigen Behausung verschwand, gab es für uns zuerst keine besondere Begrüßung. Das Handy, mit dem man hätte Verabredungen treffen können, war noch nicht erfunden und wir kannten ohnehin Niemanden auf dem Platz.
Infolge der verschiedenen unausweichlichen menschlichen Bedürfnisse entdeckten wir schnell die ausgeklügelten Infrastrukturen auf dem Gelände. Die „Volxküche“ beispielweise, wenn es sie nicht ohnehin schon lange gab, dürfte hier erneut erfunden worden sein. Überall gab es Gelegenheit, mit anzufassen und Kontakte waren schnell geknüpft. Nach einem einfachen aber leckeren Essen (vielleicht waren es nur Kartoffeln…) fand sich ein Schlafplatz in einer kleinen gemütlichen Hütte mit allerliebsten Knüppelholz- Einbauten.

Die Siebziger waren gerade vorbei, in denen unter dem Eindruck der Ölkrise erstmalig Gedanken von den Grenzen des Wachstums aufkamen. Die Zukunftsängste in einem der reichsten Länder der Erde hatte die Industrie geschickt aufzugreifen gewusst und unendliche Energie aus dem Atom versprochen. Dass es sich eigentlich um eine Militärtechnologie handelt, bei der man noch heute behaupten könnte, dass es sich bei der Energieausbeute um einen Nebeneffekt der Herstellung waffenfähigen Materials handelt, war von Anfang an verschleiert worden.
Ein Jahrzehnt erschienen nun schon Illustrierte in grellbunten Farben, in der Hobbythek lackierte man alte Holzmöbel mit Nitrolack über und Gartenstühle erstrahlten in cadmiumrotem Plastik. In unserem Wohngebiet vergiftete man samstäglich nach dem Rasenmähen den Löwenzahn im Spielrasen der Kinder mit Giftsticks an langen Kunststoffstäben. Die Stäbe, damit man sich nicht mehr bücken musste. Die Chemieindustrie hatte Hochkonjunktur und sie brauchte Energie.
Für alle Verrichtungen, bei denen man sich bewegen hätte müssen, waren Geräte mit Elektromotor entwickelt worden. Nach dem elektrischen Rasierapparat kam die elektrische Zahnbürste, es gab Eier- und Gurkenschneider, Hawaiitoastgeräte und Fonduekocher, Rasenmäher und Heckenscheren wurden selbst für die kleinsten Gärten mit Kabeln ausgestattet. Meine Generation hatte bisweilen als einziges Thema, wie viel Watt die Stereoanlage aufbrachte und findige Bastler konstruierten die ersten Fernbedienungen mit Stand- by- Funktion aus dem Elektrobaukasten.

Obwohl ich erst nur für’s Wochenende in das Hüttendorf reisen wollte, wurde es dann doch länger. Ich hätte in die Schule gemusst und es standen wichtige Abiturklausuren an. Es erschien mir jedoch nicht sinnvoll, im Leistungskurs Biotope zu kartieren, Formeln und Vokabeln zu pauken und mich mit Pädagogik und Sozialkunde zu beschäftigen, während gleichzeitig die Welt, in der ich dies alles einmal hätte anwenden wollen, drohte, unbewohnbar zu werden. Ein ungutes Gefühl verblieb mir trotzdem. Ich hatte mich zu entscheiden: Auf welcher Seite stehst du, hey? Ich entschied mich für das Leben.

Ein Jahr war erst vergangen, seit ich mit 100.000 Menschen in den Strassen Hannovers um die wendländischen Trecker getanzt hatte. Jetzt wollten wir tanzen, mehr als „sieben Tage lang“.
Es war auch erst ein Jahr her, dass man einen Lüchower mit 10 Jahren Haft bedroht hatte, weil er bei den Demonstrationen gegen das Atomkraftwerk Grohnde unter anderem einen Polizisten in den Stiefel gebissen haben sollte. Bei den Demonstrationen gegen diese ungeheuerliche Anklage und die folgende Besetzung der Hamburger Petrikirche wurde ich Augenzeuge des polizeilichen Vorgehens. Vor meinen Augen trampelten Polizeibeamte eine alte Frau mit Gehhilfen nieder, wir halfen der Dame wieder auf. Am nächsten Tag lasen wir in der Zeitung, Demonstranten hätten eine Passantin niedergeschlagen. Dies Geschehen war exemplarisch für die öffentliche Berichterstattung dieser Tage.

Noch mehr Angst, als davor, in Polizeistiefel beißen zu müssen, hatten wir davor, in’s Gras beißen zu müssen. Nicht, dass wir nur glaubten, Atomkraft würde im Havariefalle schlagartig unsere ganze Umwelt vernichten, aber wir wussten bereits um die schleichende Vergiftung unserer Lebensgrundlagen. Die Leukämiefälle in der Elbmarsch, die Kinderkrebsstudie an deutschen Atomkraftwerksstandorten, die Verseuchung der Meere an europäischen Wiederaufarbeitungsanlagen, die beispiellose Kontamination indigener Völker in der Uranabbaugebieten, der Einsturz von Morsleben, der Wassereinbruch in der Asse… die nächsten Jahrzehnte sollten uns –leider- Recht geben. Als ich wenige Jahre später meine zweite Tochter auf den Armen hielt, ging der Regen von Tschernobyl nieder. Die Milch unserer Tiere konnten wir ihr nicht mehr geben.

Uns war auch klar, dass der Atomstaat immer auch der Polizeistaat sein würde. Solange diese menschenverachtende Technologie des kalten Krieges gegen die Bevölkerung durchgeknüppelt werden musste, konnten eine offene Demokratie und Bürgergesellschaft nicht gedeihen. Dem setzten wir ein Zusammenleben entgegen, in dem Menschen sich solidarisch verhielten. Der Diskurs war dennoch bisweilen anstrengend, aber immer fruchtbar und lehrreich.

Schon zu Beginn der Besetzung hatte „das Volk“ seinen Beschluss zur „Grundabtretung“ der Deutschen Gesellschaft zur Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen im Interesse des Gemeinwohls an die freie Republik Wendland bekannt gemacht. In der Begründung hieß es: „durch die bergmännische Erschließung besteht die Gefahr, dass der Salzstock Gorleben als Endlager für radioaktive Abfälle genutzt wird, obwohl er dafür nach internationalen Kriterien nicht geeignet ist. Da andere Salzstöcke nicht untersucht werden, besteht der begründete Verdacht, dass der gläubigen Bevölkerung … nur eine Prüfung des Salzstocks vorgespielt wird. Dies bestätigen auch die nicht eingehaltenen Versprechungen von Politikern, deren Kriterienkatalog bis heute nicht existiert… Die Errichtung eines End- und Zwischenlagers verstärken den Ausbau der Atomenergie. Damit steigt sowohl die direkte Gefährdung durch Atomkraftwerke, als auch durch ständig neu produzierten Atommüll. Auf lange Sicht können nur erneuerbare Energien und intelligenter Umgang mit Energie die Zukunft sichern. Die notwendige Umstellung darauf wird durch den weiteren Ausbau der Atomenergie jedoch behindert und verzögert.“
Dem ist auch nach 30 Jahren nichts hinzu zu fügen.

Als die Räumung bevor stand, befand ich mich wieder in Hamburg. Tief in der Nacht quetschte ich mich in den Wagen eines Rechtsanwaltes und fuhr „in den Landkreis“. Als deutlich wurde, dass es noch dauern würde, kündigte unser Fahrer an, für einen Termin zurück zu fahren und später wieder zu kehren. Ich hatte eine Mathematikklausur, deren Versäumnis mich endgültig mein Abitur kosten würde. Hin und her gerissen entschied ich, den Versuch zu machen, beides zu vereinen.
Ich traf viel zu spät bei der Prüfung ein. Der Lehrer, der mir sonst durchaus nicht wohlgesonnen war, fragte: „Kommen Sie aus Gorleben?“ Als ich bejahte, stellte er mich von der Klausur frei und schickte mich in den Aufenthaltsraum, um allen anderen später Bericht erstatten zu können. Die Räumung war in vollem Gange. Der Reporter wurde am eingeschalteten Mikrofon verprügelt. Später protestierten etliche Journalistenverbände gegen die massive Behinderung ihrer Arbeit, es gab auch Strafanträge gegen die Polizei.

Ich war geschockt. Ich fühlte mich als Verräter. Ich hatte meine Ideale im Stich gelassen.
Noch mehr aber fühlte ich mich verraten. Über ein Jahrzehnt hatte man mich denken und diskutieren gelehrt, mir Informationen zugänglich und verständlich gemacht, mich mit Geschichte, Ethik und Politik konfrontiert, aber was unter anderem dabei herauskam, war nicht erwünscht. Es wurde mit Stiefeln zertreten, beiseite geknüppelt und mit Bulldozern weggeschoben.

Ich schrieb meine Mathematikklausur nie mehr nach. Ich machte mich auf die Suche. Ich suchte die Menschen der freien Republik Wendland.
Viele von denen, die ich fand, lernte ich erst jetzt kennen. Letztens waren es 120.000. Sie sind noch heute so weise, wie vor 30 Jahren. Alles wofür und wogegen sie vor 30 Jahren eintraten gilt- bedauerlicher Weise- noch heute.

Der Salzstock Gorleben wurde allein aus politischen Erwägungen alternativlos „ausgewählt“ und womöglich von lokalen Politikern ohne jeden Sachverstand „angedient“. Kriterien für eine Endlagersuche wurden erst gar nicht aufgestellt, sondern erst im nachherein den vorgefundenen Erkenntnissen sukzessive angepasst. Der Ausbau zu einem Endlager wurde einfach zur „Erkundung“ umdeklariert, so wie die illegale Einlagerung in der Asse einfach zur „Forschung“ erklärt wurde. Negative Erkenntnisse (z.B. aus der Asse) wurden einfach ausgeblendet, Gutachten manipuliert, kritische Gutachter ausgeschaltet. Konzepte, die zur Verbesserung von Sicherheit beitragen könnten, aber Geld kosten würden, werden durch gezielte Vorhaben aus Steuermitteln „weggeforscht“. Internationale Erkenntnisse über Lagermedien und Risiken werden totgeschwiegen und ignoriert, um Bundesländer nicht zu verschrecken und politische Mehrheiten nicht zu gefährden. Lokale Gremien wurden mit zweifelhaften Verträgen zum „Wohlverhalten“ verpflichtet und finanziell abhängig gemacht. Transportgenehmigungen in die Blechhalle in Gorleben werden nur für den Hinweg erteilt.

Warum das alles? Weil es für den Weiterbetrieb von Atomkraftwerken mindestens der Illusion eines „Entsorgungsnachweises“ bedarf und die satten Einnahmen aus abgeschriebenen Meilern eine munter plätschernde Geldquelle darstellen, die wenigstens einen kleinen Teil der vollmundig gemachten Wahlversprechen in Aussicht stellen.

Die „Freie Republik Wendland“ hat das alles schon vor 30 Jahren gewusst. Hätte man sie seinerzeit ernst genommen, anstatt sie in den Staub zu treten, wären wir heute in Bezug auf Klimaschutz und regenerative Energien ein Vorzeigeland auf der Erde. Durch eine Dezentralisierung der Energieversorgung wären wir auch noch reich dazu.
Die Freie Republik Wendland war der Traum von einer besseren Republik.
Bis heute ist sie eine Illusion geblieben.

Jeden Sonntag, an den Gorlebenkreuzen und bei Sonntagsspaziergängen, lebt sie jedoch wieder auf, die Lebensrepublik. Und im November, wenn wieder der Tod ins Wendland gefahren wird, versammelt sich das Volk auf der Straße und tanzt, „sieben Tage lang“. Jeder freie Wende dieser Welt ist herzlich eingeladen, mitzutanzen. Und mit jedem Menschen stehen unsichtbar 40.000 Generationen auf der Straße und fordern ihr Recht.

Martin Donat