"Europas Atomkraftwerke sind nicht sicher genug"

Es ist ein Offenbarungseid: Werden die europäischen AKWs unter die Lupe genommen, dann offenbart sich das ganze Dilemma: Sicher ist nur, dass nichts sicher ist. Ausgerechnet die Springer-Zeitung „Welt“ widmet sich diesem Kapitel und untermauert, warum es so wichtig ist, weiter für den Sofortausstieg zu kämpfen. Stephanie Bolzen berichtet:

„Europäische Atomkraftwerke weisen erschreckende Sicherheitsmängel auf. Das belegen umfangreiche Stresstests. Französische AKW schneiden besonders schlecht ab – aber auch deutsche AKW sind betroffen.

Die Europäische Kommission hat bei der Überprüfung europäischer Atomkraftwerke schwere Mängel festgestellt. Nach dem Atomunfall von Tschernobyl 1986 hätten die EU-Staaten dringende Sicherheitsmaßnahmen vereinbart. „Auch Jahrzehnte später steht deren Umsetzung in einigen Mitgliedsländern noch immer aus.“

Die Sicherheitsstandards von Europas Nuklearanlagen weisen große Unterschiede auf. „Hunderte technische Verbesserungsmaßnahmen“ seien identifiziert worden, „praktisch alle Anlagen bedürfen verbesserter Sicherheitsmaßnahmen“. Das ist das Abschlussergebnis der Stresstests, die die EU-Kommission nach dem Atom-Unglück im japanischen Fukushima im März 2011 durchführen ließ. Der Bericht liegt der „Welt“ vor. Welche Kraftwerke konkret betroffen sind, wird erst später bekannt gegeben.

Bei deutschen AKW kritisiert Brüssel die auf den Anlagen selbst installierten Erdbeben-Warnsysteme als unzureichend. Auch seien die von der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA vorgeschriebenen Leitlinien bei schweren Unfällen nicht voll umgesetzt.

Der Vergleich der EU-weiten Mängelliste fällt vor allem für die französischen AKW schlecht aus. Bei ihnen stellten die Experten die meisten Kritikpunkte fest.

Große Unterschiede in den EU-Ländern

„In vier Reaktoren, die in zwei verschiedenen Ländern liegen, haben die Betreiber weniger als eine Stunde Zeit, um nach einem kompletten Stromausfall oder/und einem Ausfall der Kühlsysteme die Sicherheitssysteme wieder hochzufahren“, heißt es in dem EU-Report weiter.

Zehn Reaktoren sind demzufolge noch immer nicht mit einer seismischen Messanlage ausgestattet, die vor einem Erdbeben warnen.

Zwischen den Sicherheitsstandards in den EU-Ländern herrschen zudem große Unterschiede. Nur vier EU-Länder „betreiben zusätzliche Sicherheitssysteme, die unabhängig vom normalen System in einer Zone installiert sind, die gut gegen äußere Einflüsse gesichert sind (zum Beispiel in Bunkersystemen)“. Ein fünftes Land erwäge eine solche Einrichtung.

In der EU stehen in 14 Ländern Atomkraftwerke. Insgesamt zählt die Union 68 Nuklearanlagen mit 134 Reaktoren auf ihrem Territorium. „Mobiles Equipment, vor allem Dieselgeneratoren im Fall eines totalen Stromausfalls, äußerer Zwischenfälle oder einer schweren Unfallsituationen sind bereits in sieben Ländern vorhanden und werden in den meisten anderen installiert“. Kommende Woche soll in Brüssel der Gesamtreport mit allen Details vorgestellt werden.

Kosten von bis zu 25 Milliarden Euro

Die EU-Kommission rechnet wegen der unzureichenden Sicherheitsausstattung mit hohen Nachrüstungskosten für die Betreiber. „Die Identifizierung von Hunderten notwendigen Sicherheitsverbesserungen für die existierenden Nuklearanlagen erfordern eine Gesamtinvestition zwischen zehn und 25 Milliarden Euro in den kommenden Jahren“, lautet die Analyse.

Nach Fukushima hatte die EU-Kommission darauf gedrungen, Europas AKW einem umfassenden und vor allem glaubwürdigen Stresstest zu unterziehen. Umweltschützer kritisierten, dass die Prüfkriterien verwässert wurden. So zählten beispielsweise Terrorangriffe nicht zu den Testszenarien.

Energiekommissar Günther Oettinger traf bei den Vorbereitungen auf großen Widerstand insbesondere aus Frankreich und Großbritannien. Regierungen wie Betreiber wehrten sich gegen den Zutritt externer Experten zu den streng geschützten Anlagen.

Im vergangenen April kündigte Oettinger an, die eigentlich für Juni geplante Veröffentlichung der Ergebnisse auf den Herbst zu verschieben, weil die Überprüfungen völlig unzureichend abliefen. So waren bis zum Frühjahr erst 38 Reaktoren überprüft wurden. Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland kamen nur vereinzelte Anlagen unter die Lupe.

Nur 24 der insgesamt 68 AKW überprüft

Auch für den Abschlussbericht wurden nur 24 der insgesamt 68 AKW überprüft. Die Kernkraftwerke Gundremmingen und Grafenrheinfeld wurden dabei nicht nur von nationalen Aufsehern, sondern auch von Experten aus anderen Mitgliedstaaten untersucht. Diese „peer review“ soll den Standard der Stresstests sicherstellen.

Auch die umstrittenen Anlagen im tschechischen Temelin und im französischen Fessenheim, die zuvor nicht als Prüfstandort auftauchten, bekamen in der verlängerten Testphase Besuch von ausländischen Nuklearexperten.

Oettinger wird den Bericht kommenden Mittwoch in Brüssel vorstellen. Er will die geltende EU-Gesetzgebung für Nuklearsicherheit in den kommenden Monaten verschärfen, um einen besseren Zugriff auf die EU-weiten Standards zu haben.“