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Atomkraft ohne Zukunft

Das Gemunkel von der Renaissance der Nuklearenergie hält der Realität nicht stand. Siemens und RWE erklären die Meiler für nicht wettbewerbsfähig. Weltweit geht der Atomstromanteil immer weiter zurück, während Solar und Windkraft unverändert boomen.

Die Ampel ist Geschichte. Und die Restlaufzeit der rotgrünen Minderheitsregierung von Olaf Scholz (SPD) währt nur noch wenige Wochen. CDU-Chef Friedrich Merz scharrt schon mit den Hufen und kündigt für den Fall eines Wahlsiegs eine neue Energiepolitik an. Wird es in Deutschland womöglich ein Comeback der Atomkraft geben, der umstrittensten Art der Stromerzeugung? Merz bezeichnet den im April 2023 endgültig vollzogenen Ausstieg aus der Atomkraft als „Irrsinn“, er kündigt bisher aber keine Bauabsichten für neue Atomkraftwerke an. Stattdessen plant er eine enge energiepolitische Zusammenarbeit mit den stark auf Atomkraft fixierten französischen Nachbarn. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder wiederum träumt noch immer von einer Wiederinbetriebnahme der letzten abgeschalteten Reaktoren.

Getrieben wird die energiepolitische Debatte rund um die Atomkraft vom ständigen Hintergrundrauschen einer angeblichen Renaissance der Atomenergie. Spektakulär ist vor allem die Ankündigung einer Nuklearoffensive von inzwischen 31 Staaten auf den beiden Klimakonferenzen in Dubai und Baku. Sie sind einem Bündnis beigetreten, das die weltweiten Atomkraft-Kapazitäten verdreifachen will. Rafael Grossi, Chef der Atomkontrollbehörde IAEA in Wien, setzt noch einen drauf: Deutschland, sagte er auf der Klimakonferenz in Baku, werde bald seinen Atomausstieg revidieren.

Neben solch feurigen Ankündigungen gibt es noch eine energiepolitische Realität, die ganz anders aussieht. Die Atomkraft verliert im weltweiten Mix der Stromerzeugung jedes Jahr mehr an Bedeutung. Ihr Anteil ist im vergangenen Jahr auf nur noch rund neun Prozent gefallen. Die stark überalterte globale Nuklearflotte zählt aktuell 408 Atommeiler. Das sind zehn weniger als 1989, also vor 35 Jahren, und 30 weniger gegenüber dem historischen Peak von 2002.

Noch eindringlicher wirkt die Talfahrt der Atomenergie, wenn man sie mit dem weltweiten Höhenflug der Erneuerbaren Energien von Sonne, Wind und Co. vergleicht. Der Blick auf die Investitionen zeigt die Kräfteverhältnisse unmissverständlich in harten Zahlen. Danach flossen im vergangenen Jahr 39 Prozent aller globalen Energie-Investitionen in Erneuerbare Energien, 27 Prozent in den Ölsektor, die Nummer zwei, aber nur drei Prozent in die Atomkraft, so die aktuellen Zahlen des Statusreports Renewables 2024.

Fünf Atomkraftwerke sind im Jahr 2023 rund um den Globus neu ans Netz gegangen. Doch gleichzeitig sind auch fünf Altmeiler ausgemustert worden. Zuwachs: null. Im gleichen Jahr 2023 sind aber 536 Gigawatt an Erneuerbaren Energien zugebaut worden, das entspricht etwa einer Kapazität von fast 500 großen Atommeilern. Zuwachs: stark. Solche Vergleiche sind zwar schwierig, weil Solar- und Windanlagen nicht rund um die Uhr Strom erzeugen. Aber sie zeigen den Trend in der Energiepolitik. Hinzu kommt die Überalterung der weltweit betriebenen Atomflotte. Die 408 Atomkraftwerke sind im Schnitt 32 Jahre alt – die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei etwa 40 Jahren – und 108 Meiler liegen sogar schon jenseits der 40-Jahres-Grenze.

Auch in China wird der Atomsektor abgehängt

Als weltweiter Anführer bei der Expansion der Atomkraft gilt China. Aber auch dort hat sich der Wind gedreht. Betrachtet man die vergangenen zehn Jahre, dann hat sich die Kapazität der Atomenergie im Reich der Mitte glatt verdreifacht. Die der Erneuerbaren Energien hat sich im selben Zeitraum aber verachtfacht. Und die Schere geht weiter auseinander. Windkraft erzeugt inzwischen in China mehr als doppelt so viel Strom wie die 57 Atomkraftwerke des Landes, und auch die Photovoltaik hat den Nuklearsektor abgehängt. Vergangenes Jahr konnte China ein weiteres Atomkraftwerk ans Netz bringen mit rund 1000 Megawatt Leistung. Aber gleichzeitig wurden 200.000 Megawatt Solarenergie zugebaut.

Die wichtigste Ursache für den Marktverlust der Atomkraft ist ihr Preis: Sie ist einfach zu teuer. Die Kosten für Solaranlagen sind zwischen 2009 und 2024 um 83 Prozent gefallen, für Wind an Land um 63 Prozent. Im selben Zeitraum haben sich Atomkraftwerke um 49 Prozent verteuert, so die Gegenüberstellung im World Nuclear Industry Status Report 2024 (WNISR) Atomenergie ist, sofern sie nicht staatlich subventioniert wird, einfach nicht mehr wettbewerbsfähig.

Ex-Siemens-Chef Joe Kaeser, heute Aufsichtsratsvorsitzender von Siemens Energy, ließ in einem ARD-Interview Ende November keinen Zweifel an den wirtschaftlichen Problemen der Nuklearbranche. Kaeser: „Es gibt kein einziges Atomkraftwerk auf der Welt, das sich ökonomisch rechnet.“ Zuvor hatte schon RWE-Chef Markus Krebber in der FAZ die Frage nach einer Renaissance der Atomkraft kühl abmoderiert: „Ich bin skeptisch, dass es gelingt, Kernkraftwerke wettbewerbsfähig zu betreiben. Das ist kein Sicherheitsthema, sondern ein ökonomisches. Viele Neubauinvestitionen laufen aus dem Ruder.“

Eine Absage erteilte Krebber auch den Vorstellungen, eine Bundesregierung unter Kanzler Merz könnte im nächsten Jahr stillgelegte Meiler wieder ans Netz bringen. Der Aufwand dafür gleiche fast einem Neubau, sagt Krebber. Es fehlten nicht nur die erloschenen Genehmigungen, sondern auch die hochqualifizierten Arbeitskräfte. Krebbers Fazit: „Wenn ich Kosten und Nutzen gegenüberstelle, muss ich sagen – Renaissance der Kernkraft? Großes Fragezeichen!“

Die Absagen der früheren Reaktorbauer und Atombetreiber, Siemens und RWE, werden indes kaum wahrgenommen. Die aktuelle Energiedebatte scheint vor allem ideologisch getrieben. Sie erinnert in fast beklemmender Weise an den Beginn der Atomkraft in der alten Bundesrepublik in den 1960er Jahren. Auch damals wehrte sich die Energiewirtschaft. Sie musste mit hohen Subventionsgeschenken der Politik fast gezwungen werden, die ersten Atomkraftwerke zu bauen und zu betreiben.

Milliardengräber in England und Frankreich

Hohe Subventionen fließen nach wie vor in den Atomsektor. Schlagendes Beispiel ist der Bau des Doppelreaktors Hinkley Point C in Großbritannien. Die britische Regierung hat für den dort erzeugten Atomstrom eine Spitzenvergütung versprochen, der Strom soll zu weit überhöhten Preisen abgenommen werden. Doch der von der französischen EDF verantwortete britische Neubau läuft komplett aus dem Ruder. „Wir bauen das teuerste Atomkraftwerk der Welt“, spottet der Guardian. 2017 sollte das Kraftwerk fertiggestellt sein. Jetzt wird 2029 bis 2031 als Starttermin für den ersten Block angepeilt. Die Kosten haben sich mehr als verdoppelt auf jetzt 52.5 bis 59.2 Milliarden Dollar, so die letzte Hochrechnung.

Auch das zweite große europäische Atomprojekt sorgt regelmäßig für Negativ-Schlagzeilen. Der Bau des französischen Atomkraftwerks Flamanville in der Normandie wurde und wurde nicht fertig. Und die Kosten sind explodiert. Im Dezember 2007 hatten die Konstruktionsarbeiten begonnen. Bauherrin Electricité de France (EDF) versprach die Fertigstellung für 2012 bei Kosten von 3,3 Milliarden Euro. Zwölf Jahre später ist das Vorzeige-AKW der neuen Baureihe – zu Weihnachten 2024 – endlich ans Netz gegangen. Die Kosten sind nach Aussagen des französischen Rechnungshofs auf 19,2 Milliarden Euro geklettert.

Angesichts solcher Entwicklungen werden Neubauprojekte zunehmend fragwürdig. Und wer soll die vielen neuen Atomkraftwerke, die jetzt angekündigt werden, eigentlich bauen? Herausgeber Mycle Schneider und das Autorenteam des WNISR haben die infrage kommenden Unternehmen gecheckt:

  • Die US-Firma Westinghouse sei schon 2017 bankrottgegangen und von einer kanadischen Firma aufgekauft worden. „Die neuen kanadischen Eigentümer haben noch nie ein AKW gebaut“ (Schneider). Inzwischen habe Westinghouse angekündigt, sich als Konstrukteur zurückzuziehen.
  • Das südkoreanische Staatsunternehmen Korea Electric Power Corporation sei hoch verschuldet und habe im Ausland mit Ausnahme der Emirate noch kein Atomkraftwerk errichtet.
  • Die beiden chinesischen Hersteller CGN und CNNC stünden wiederum auf der Schwarzen Liste der USA. Sie hätten außerhalb des eigenen Landes bisher nur in Pakistan gebaut.
  • Der französische Reaktorbauer EDF habe gewaltige Probleme, seine alten Projekte Flamanville und Hinkley Point C endlich fertig zu kriegen.
  • Bleibt die russische Firma Rosatom. Welches europäische Land will angesichts des Ukrainekriegs und der beschlossenen Sanktionen sich vom russischen Marktführer abhängig machen?

Schneiders Fazit: Für die auf den Klimakonferenzen angekündigten Neubauprojekte fehlten schlicht elementare Voraussetzungen, nämlich die Unternehmen, die Atomkraftwerke in größerer Stückzahl bauen könnten. Falls es der Nuklearbranche gelinge, die anstehenden Stilllegungen von Alt-Kraftwerken in den nächsten Jahren durch Neubauten zumindest auszugleichen, wäre allein das schon erstaunlich.

Bleibt es also, wie schon so oft, bei breitspurigen Ankündigungen und bloßer Rhetorik einer Renaissance? Ist die Renaissance nur eine politische Blase, ein Alibi für die verpasste Transformation hin zu einem klimaverträglichen Energiesystem? Ein Hoffnungsträger der Branche sind die modular aufgebauten Minireaktoren, die seit einigen Jahren als smarte Alternative diskutiert werden. Als kleines AKW von der Stange sollen sie den Niedergang der Branche aufhalten. Die bisherigen Pilotprojekte zeigen allerdings, dass die technischen und finanziellen Probleme ähnlich gelagert sind wie bei den großen Meilern. Noch gibt es keine zertifizierten Konzepte. Ein Durchbruch ist auch bei den Minis nicht in Sicht.

Die Fakten sprechen klar gegen eine Renaissance der Atomkraft. Aber es geht in der Energiedebatte auch um Ideologie, Rechthaberei und alte Schützengräben. Auffällig ist, dass bis auf wenige Ausnahmen vor allem Atomwaffenstaaten, Diktaturen und autoritär regierte Länder Atomkraftwerke bauen und betreiben.

Eine Million Jahre

Ein Thema fehlt in der Atomdebatte: die ungelöste Entsorgung. Inzwischen ist der deutsche Atommüll auf 212 Standorte in der gesamten Republik verteilt – in Abklingbecken, Zwischenlagern, Landessammelstellen. Ein Endlager ist nicht in Sicht. Im ehemaligen Bergwerk Schacht Konrad bei Salzgitter soll etwa die Hälfte des leicht- und mittelaktiven Atommülls eingelagert werden. Der Start wurde immer weiter verschoben von ursprünglich 1988 auf 2013, dann 2022 und jetzt auf „den Beginn der 2030er Jahre“.

Für das Endlager für hochradioaktiven Müll, das die strahlenden Abfälle für eine Million Jahre aufbewahren soll, wird noch ein Standort gesucht. Bis 2074, so die aktuelle Zielvorgabe der Bundesgesellschaft für Endlagerung, soll der Standort gefunden und dem Bundestag vorgeschlagen werden. Das ist 43 Jahre später als vorgesehen. Dann muss das Endlager aber erst noch gebaut werden. Das wird wohl erst im nächsten Jahrhundert abgeschlossen sein, Damit wäre das Projekt Endlagerung mit dem 120-jährigen Bau der ägyptischen Pyramiden von Gizeh vergleichbar.

Quellen

  • ARD-Mediathek, Sendung Maischberger vom 27.11.2024
  • FAZ-Interview mit RWE-Chef Krebber vom 12. 11. 2024
  • Renewables 2024 Global Status Report, https://www.ren21.net/gsr-2024/
  • World Nuclear Industry Status Report 2024, https://www.worldnuclearreport.org/
  • Französischer Rechnungshof, Court of Accounts, “La filière EPR”, Cour des Comptes, 9 July 2020. See WNISR2020 for excerpts from the report.
  • The Guardian, https://www.theguardian.com/news/2017/dec/21/hinkley-point-c-dreadful-deal-behind-worlds-most-expensive-power-plant
  • Bundesgesellschaft für Endlagerung, www.BGE.de, › Endlagersuche
  • Persönliches Gespräch mit Mycle Schneider, Herausgeber des WNISR, Teilnahme an der Pressekonferenz zur Vorstellung des WNISR in Berlin

Dieser Text ist zuerst erschienen in DER FREITAG vom 12.12.2024

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Manfred Kriener

Manfred Kriener ist Umweltjournalist und gehört zur Gründergeneration der Tageszeitung taz.