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Maureen Kearney bei der IG Metall in Frankfurt (Foto dzw)

Eine Betriebsrätin im Räderwerk der französischen Atommafia

Vor gut einem Jahr unterstützte die Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg eine Spendensammlung mit dem Ziel, das Buch „La Syndicaliste“, Vorlage für den Film „Die Gewerkschafterin“, auf deutsch erscheinen zu lassen. Das Ziel wurde erreicht: Die edition einwurf, Rastede, konnte die Rechte erwerben und fragte bei Eva Stegen von den Elektrizitätswerken Schönau an, ob sie sich eine Übersetzung vorstellen könne. Stegen, die so etwas noch nie gemacht hatte, nahm sich ein Herz und debütierte als Übersetzerin. Auf der Leipziger Buchmesse wurde die Neuerscheinung präsentiert, danach auf Veranstaltungen in Zürich und Frankfurt. Maureen Kearney, um die es im Buch und Film geht, war jeweils persönlich anwesend. Ihre Geschichte anzuhören und sie selbst zu erleben, ließ niemanden gleichgültig.

Kearney trat vor zwanzig Jahren der französischen Gewerkschaft CFDT bei und wurde Vorsitzende des Konzernbetriebsrats von Areva, also eines französischen Nuklearunternehmens, das mit Westinghouse (USA), Rosatom (Russland), CGNPC (China) und Kepco (Südkorea) zu den weltweit größten Reaktorbauern zählte. In den Hochzeiten von Areva vertrat der Konzernbetriebsrat bis zu 75.000 Beschäftigte in vierzehn Ländern, darunter auch von mehreren deutschen Niederlassungen.

Kearney war natürlich keine AKW-Gegnerin. Sie identifizierte sich mit dem Unternehmen, was sie allerdings nicht daran hinderte, die Interessen der Beschäftigten energisch und selbstbewusst zu vertreten. Mit der damaligen Areva-Chefin Anne Lauvergeon praktizierte sie eine Sozialpartnerschaft, die zeitweise erfolgreich funktionierte. Das änderte sich, als die Probleme des Unternehmens immer größer wurden, weil sich herausstellte, dass Arevas vermeintlicher Verkaufsschlager, der Europäische Druckwasserreaktor (EPR), auf einem falschen Konzept beruhte. Auf den Baustellen in Finnland (Olkiluoto), China (Taishan) und Frankreich (Flamanville) traten immer neue Schwierigkeiten auf, die Termine wurden weit überschritten, die Kosten explodierten und Areva häufte Schulden an, ohne zu wissen, wie sie zurückgezahlt werden könnten. Im März 2011 ereignete sich der MultiGAU von Fukushima, und keine Regierung – außer Erdogan – war zu der Zeit bereit, neue Atomkraftwerke in Auftrag zu geben.

Wir Atomkraftgegner legten natürlich den Finger auf die Wunde und wurden nicht müde, den EPR zu kritisieren. Uns war er ein weiterer Beweis dafür, dass diese Technik nicht beherrscht werden kann. Scheinbar erzielten wir damit keine Wirkung, nichts konnte die Begeisterung der französischen, chinesischen und finnischen Nuklearisten trüben – übrigens einschließlich der finnischen Grünen, die den Reaktor als Beitrag zum Klimaschutz verstanden.

Durch das Buch erfahren wir heute, dass der nach außen zur Schau getragene Optimismus mitnichten der Stimmung in den Nuklearunternehmen entsprach. Bei Areva musste Lauvergeon im Sommer 2011 zurücktreten, zum Nachfolger wurde Luc Oursel bestimmt. Tatsächlich war es das Ende einer Ära und nicht nur ein Führungswechsel. Areva setzte nun auf einen kleineren und vor allem billigeren Reaktor, den ATMEA, ein japanisch-französisches Modell. Eine Gruppe mächtiger Politiker und Wirtschaftsbosse um den damaligen Präsidenten Sarkozy hatte jedoch anderes im Sinn. Ihren Plänen zufolge sollte China die nächste Reaktorlinie bauen, freilich mit französischer Technologie. Für diese Kooperation bot sich der französische Stromversorger EDF an, dessen damaliger Vorstandsvorsitzender Henri Proglio die Gelegenheit nutzen wollte, um den lästigen Konkurrenten Areva loszuwerden.

Im französischen Wahlkampf vom Frühjahr 2012, in dem der Sozialist François Hollande gegen Nicolas Sarkozy antrat, bekam die CFDT geheime Unterlagen zugespielt, aus denen hervorging, dass EDF schon seit längerer Zeit einen Deal mit China verhandelte und dabei Atomtechnologie von Areva anbot. Bloß, bei Areva wusste man bis dahin nichts davon. Der Konzernbetriebsrat beschloss, das Thema an die Öffentlichkeit zu bringen. Maureen Kearney schrieb Abgeordnete an, gab Interviews, stellte bohrende Fragen. War die Regierung informiert? Billigte sie das Vorgehen von EDF? Was würde aus den Arbeitsplätzen bei Areva werden?

Hollande gewann die Wahl, doch die Geheimverhandlungen mit den Chinesen gingen weiter. Der neue Präsident rügte Henri Proglio, beließ ihn aber vorerst auf seinem Posten. Der Vorstandsvorsitzende von EDF interpretierte es so, dass er zu Ende führen sollte, was er begonnen hatte. Die zweite Jahreshälfte von 2012 wurde entscheidend: für die französische Nuklearpolitik, für Areva und für Maureen Kearney persönlich.

Buchautorin Caroline Michel-Aguirre schildert im Detail, wie sich das Drama zuspitzte: wie Kearney vom neuen Areva-Chef Oursel gemobbt wurde, weil sie beharrlich Auskünfte verlangte, wie sie bei Ministern der neuen Regierung vorsprach, die ihr versicherten, die Arbeitsplätze von Areva zu erhalten und sie teilweise sogar in ihrem Vorgehen bestärkten.

Im September werden Auszüge eines französisch-chinesischen Rahmenabkommens über nukleare Zusammenarbeit bekannt. Im Oktober bekommt Kearney von einem Whistleblower ein EDF-internes Mitteilungsblatt. Darin ist ein Foto gedruckt, das Proglio, Oursel und den Repräsentanten der China General Nuclear Power Corporation bei einer feierlichen Vertragsunterzeichnung abgelichtet hat. Diese Dokumente zeigt Kearney nun bei jeder Gelegenheit Abgeordneten, Medienleuten, Politikern. Sie wird zunehmend unbequem und erhält jetzt anonyme Telefondrohungen. Kearney lässt sich nicht beirren. Ihr ist klar, dass es um viele tausend Arbeitsplätze geht. Sie will persönlich bei Präsident Hollande vorsprechen, ein Termin wird ihr in Aussicht gestellt. Der Konzernbetriebsrat beschließt, die Herausgabe der Geheimdokumente gerichtlich zu erzwingen. Das ist die Lage, in der sie das Opfer eines schockierenden Verbrechens wird. Allein in ihrem Haus wird sie am 17. Dezember 2012 von einem Unbekannten überfallen, auf einem Stuhl gefesselt, geknebelt, sexuell misshandelt und verletzt. Bevor er verschwindet, sagt der Täter, dies sei die zweite Warnung, eine dritte werde es nicht geben. Stunden später wird sie von einer Haushälterin gefunden und befreit.

In Regierungskreisen soll sich die Nachricht von der Gewalttat wie ein Lauffeuer verbreitet haben. Das Buch gibt ein Telefonat wieder, das Wirtschaftsminister Montebourg noch am gleichen Abend mit Oursel geführt hat. Ultimativ fordert der Minister von dem Manager, das „Chaos“ bei Areva zu beenden und legt auf, bevor sich Oursel rechtfertigen kann. Doch Kearney erlebte in der Folge, was so viele Vergewaltigungsopfer vor ihr durchmachen mussten: medizinische Untersuchungen, polizeiliche Verhöre, Nachstellungen des Geschehens, Zweifel an ihrer Darstellung. Mit Zermürbungen, Drohungen und Erpressungen gelang es der Polizei, sie zu einem Geständnis zu nötigen, das sie bald darauf widerrief. Den tiefsten Punkt des Abgrunds erreichte sie, als sie tatsächlich wegen Vortäuschung des Geschehens und Irreführung der Ermittlungen verurteilt wurde. Diese Gerichtsverhandlung war gleichzeitig die Geburtsstunde des Buchs. Michel-Aguirre, die den Prozess beobachtete, war über das Verhalten der Vorsitzenden Richterin dermaßen empört, dass sie beschloss, das ganze Thema zu recherchieren und alles niederzuschreiben.

Kearney ging in die Berufung und wurde 2018 von allen Vorwürfen freigesprochen. Weiter geschah nichts. Sie blieb ein gebranntes Kind der Atomindustrie und fühlte sich auch so. Ein Jahr später erschien das Buch „La Syndicaliste“ in Frankreich, 2022 dann der Film mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle. Das sei natürlich eine riesige Unterstützung gewesen, rekapituliert Kearney. Doch der Täter und seine Auftraggeber sind bis heute nicht ermittelt, eine Partnerschaft zwischen EDF und CGNPC (heute CGN) wurde beim Bau des britischen AKWs Hinkley-C realisiert, und Areva gibt es nicht mehr. Tausende Menschen verloren ihren Job. Nur das Urangeschäft läuft unter dem Namen Orano weiter und produziert zum Beispiel in Lingen Brennelemente für osteuropäische Reaktoren russischen Typs. Henri Proglio musste seinen Posten bei EDF schließlich räumen und kam bei Rosatom (!) unter, wo er im internationalen Beirat sitzt.

Muss man das Buch lesen, wenn man den Film gesehen hat? Nein, müssen muss man nicht. Anders als der Film mit seinen oft schnellen Sequenzen, aber nicht weniger spannend vermittelt das Buch allerdings bessere Einblicke in das damalige Geschehen. Michel-Aguirre beschreibt die Akteure und ihren jeweiligen Werdegang, erklärt Zusammenhänge, Handlungsmotive, Wechselwirkungen. Wir lernen den von Robert Jungk beschriebenen Atomstaat in seiner französischen Konkretion kennen. Nicht zuletzt lernen wir, dass dieser Atomstaat nicht überwunden werden kann, wenn er nicht zerschlagen wird. François Hollande hat es 2012 versäumt, der Clique um Henri Proglio das Handwerk zu legen. Wenig später wurde auch sein mit den französischen Grünen vereinbarter Plan, den Anteil von Atomstrom an der französischen Energieversorgung auf 50% zu reduzieren, sang- und klanglos beerdigt. Seine Berater rieten davon ab, darunter ein aufstrebender Newcomer namens Emmanuel Macron.

Caroline Michel-Aguirre, „Die Gewerkschafterin – Im Räderwerk der Atommafia“, übers. von Eva Stegen, edition-einwurf, 224 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-89684-727-0

Foto Detlef zum Winkel: Maureen Kearney bei der IG Metall in Frankfurt

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Detlef Zum Winkel

Detlef zum Winkel, ursprünglich Physiker. Lebt in Frankfurt am Main und schreibt vornehmlich für die Berliner Wochenzeitung Jungle World. Betreut dort u.a. die Themen Atomenergie und Proliferation.