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Unter der Wolke von Hiroshima

„Die Verletzten waren still, niemand weinte oder schrie vor Schmerz, niemand klagte; die Menschen starben lautlos.“

John Hersey, US-Journalist, über die Opfer der Atombomben

Auf die Abwürfe der US-amerikanischen Atombomben in Japan folgte eine jahrzehntelange Archivsperre und Zensur. Das Bildmaterial war so schrecklich, dass die US-Regierung zu Recht großen Widerstand gegen zukünftige Atomprojekte befürchtete.

Nach den Atombombenabwürfen der USA auf die japanischen Städte Hiroshima am 6. August und Nagasaki am 9. August 1945, die die Kapitulation Japans im Zweiten Weltkrieg zur Folge hatten, war das US-Militär sehr daran interessiert, die zerstörerische Kraft der neuen Waffen zu analysieren. Daher entsandte die US-Regierung unmittelbar nach Kriegsende Biologen, Physiker, Mediziner sowie Foto- und Filmtrupps in die Trümmerlandschaften, die von den beiden Städten noch übrig waren. Hiroshima und Nagasaki wurden zum Gegenstand einer großangelegten militärwissenschaftlichen Untersuchung.

Deren Ergebnisse und besonders die Bilddokumente wurden als geheim eingestuft und 30 Jahre lang unter Verschluss gehalten. Daniel McGovern, der als Kriegsfotograf der U.S. Air Force Filmaufnahmen in den atomar zerstörten Gebieten machte, erklärte rückblickend: „Sie wollten das Material nicht veröffentlichen, weil sie an neuen Atomwaffen arbeiteten.“ Vermutlich waren die Bilder so schrecklich, dass die US-Regierung befürchten musste, nach ihrer Veröffentlichung an weiteren Atomwaffenprojekten gehindert zu werden.

Auch das japanische Militär wollte wissen, was in Hiroshima und Nagasaki geschehen war. Allerdings war es in Japan während des Zweiten Weltkriegs verboten, Fotos aufzunehmen, die sich negativ auf die öffentliche Moral auswirken könnten. Trotzdem reisten japanische Journalisten, insbesondere von der Wochenschau-Produktionsfirma Nippon Eigasha, in das Gebiet und nahmen umfangreiches Material auf, ohne es jedoch veröffentlichen zu können.

Auf die japanische Kapitulation folgte eine sechsjährige US-amerikanische Besatzung, unter der Aufnahmen ebenfalls zensiert wurden. Im Oktober 1945 wurde ein Mitarbeiter von Nippon Eigasha bei Dreharbeiten in Hiroshima entdeckt und von der US-Militärpolizei festgenommen. Dadurch erkannte McGovern, dass die japanische Firma schon viel früher als seine eigenen Leute begonnen hatte, Aufnahmen zu machen. Er bot ihr eine Zusammenarbeit an: Sie solle ihr gesamtes Material – 27 000 Meter auf Dutzenden von Filmrollen – aushändigen, im Gegenzug werde man sie gemeinsam filmisch verwerten. Zu einer Veröffentlichung der Materialien von Nippon Eigasha kam es allerdings sowohl in den USA als auch in Japan erst Ende der Sechziger.

Dabei wurde die Zensur schon 1946 zum ersten Mal durchbrochen. Für das Magazin The New Yorker reiste der bekannte US-amerikanische Journalist und Schriftsteller John Hersey nach Hiroshima, um persönlich mit Überlebenden der Atombombenexplosion zu sprechen. In seiner Reportage kommen sechs Frauen und Männer zu Wort, darunter der katholische deutsche Missionar Wilhelm Kleinsorge, der infolge der Ereignisse an der Strahlenkrankheit litt. Hersey hebt die Stille hervor, von denen seine Zeuginnen und Zeugen wiederholt berichteten. Auf die Explosion sei eine Ruhe gefolgt: „Die Verletzten waren still, niemand weinte oder schrie vor Schmerz, niemand klagte; die Menschen starben lautlos, nicht einmal die Kinder weinten, nur sehr wenige sprachen überhaupt.“

Zum ersten Mal erfuhr die Weltöffentlichkeit, was man mit einer einzigen Atombombe alles anrichten kann: Menschen die Haut vom Leib abziehen, Augäpfel aus den Augenhöhlen drücken, schwarzen Regen vom Himmel fallen lassen, Hilfe verhindern, weil Krankenhäuser zerstört sind und ihr Personal tot oder verwundet ist, und nach all diesen Qualen eine Strahlenkrankheit auslösen.

Jene Ausgabe des New Yorker war binnen kürzester Zeit ausverkauft. Allein Albert Einstein soll 1 000 Exemplare bestellt haben. Die Informationen erreichten auch den deutschsprachigen Raum. Dort war der Zukunftsforscher Robert Jungk von Herseys Bericht erschüttert. 1957 brach er zu einer Reise nach Hiroshima auf, die ihn, wie er sagte, zu einem anderen Menschen machte. In Japan schloss er mit seinem Dolmetscher Kaoru Ogura Freundschaft, der für Jungk unermüdlich Termine arrangierte und ihn später brieflich mit weiteren Informationen versorgte. So entstand 1959 sein seither vielfach aufgelegtes, übersetztes und verfilmtes Werk „Strahlen aus der Asche“. 1961 erschien das Buch in Japan, wo es seinen Ruf begründete, als zweiter Autor nach Hersey das Schweigen über die hibakusha, wie die Überlebenden der Atombombenabwürfe genannt werden, gebrochen zu haben.

Im April 1952 endete die US-Besatzung in Japan und damit die US-amerikanische Zensur. Japanische Zeitungen sichteten Negative, die sie vor einer Beschlagnahmung durch die Militärbehörden versteckt hatten. Am 6. August des Jahres veröffentlichte das Magazin Asahi Gurafu zwei aufsehenerregende Fotos von Yoshito Matsushige, zu jener Zeit 32 Jahre alt und Reporter der Lokalzeitung Chugoku Shimbun. Er hatte die Atomexplosion in etwa zwei Kilometern Entfernung vom Epizentrum in Hiroshima überlebt und sich von dort auf den Weg in die Innenstadt gemacht. Drei Stunden später erreichte er die Miyuki-Brücke, die über den Fluss Ota auf die Hauptinsel führt.

Dort traf er auf eine Gruppe von Schwerverletzten, die dem Inferno entkommen waren. Sie blickten ihn schweigend an. Dann drückte er den Auslöser seines Apparats. 1986 erinnerte er sich in einem Interview an jene Szene: „War es grausam von mir, sie zu fotografieren? Oder war es das Beste, was ich tun konnte?“

Matsushiges Fotos machte der französische Regisseur Bertrand Collard 2015 zum Gegenstand seines Films „Sous le nuage d’Hiroshima“ (Unter der Hiroshima-Wolke). Die Filmemacher restaurierten die Aufnahmen mit moderner Technik und machten bis dahin übersehene Details sichtbar. Zudem fanden sie zwei Überlebende, Mitsuko Kouchi und Sunao Tsuboi, die sich selbst auf den Fotos erkannten. Sie berichteten von Schülerinnen, die in einer Poststation ausgeholfen und in dem massiven Gebäude überlebt hatten. Ein Mädchen habe versucht, ein verbranntes Baby wiederzubeleben, während hinter ihr ein Mann im Sterben lag. Sie beschmierten sich erst mit Rapsöl und dann mit Maschinenöl, um den Schmerz der Brandwunden zu lindern, und harrten auf der Miyuki-Brücke aus, weil sie hofften, dass Militärsanitäter weiteres Öl heranschaffen würden. Sehr wahrscheinlich finden sich noch weitere Dokumente verschlossen in den Archiven der US-Regierung.

Anfang der neunziger Jahre lief eines Nachts im deutschen Fernsehen über eine Stunde ungeschnittenen, unkommentierten Filmmaterials mit Szenen aus Hiroshima oder Nagasaki, von dem es bisher keine weitere Spur gibt. Die Aufnahmen müssen während des Feuersturms gemacht worden sein. Zu erkennen waren Menschen, deren Haut in großen Stücken vom Rücken herunterhing, andere lagen schwer verbrannt, aber zum Teil noch lebend am Straßenrand, viele taumelten ziellos zwischen Feuerwänden oder stürzten sich in das Wasser des Ota, wo sie sofort zugrunde gingen , weil es siedend heiß war. All das war in schwarzweiß und schlechter Qualität festgehalten, durch den Staub verdunkelt, der das Tageslicht verschluckte, oder durch die radioaktive Strahlung, die das Filmmaterial angegriffen hatte.

Auch der Medienhistoriker Rolf Sachsse erinnert sich an jene Aufnahmen. Wer sie gesehen hat, sollte vom nuklearen Wahn ein für alle Mal geheilt sein. Doch das gilt nicht für eine besondere Spezies empathieloser Menschen, die die kapitalistische Moderne hervorgebracht hat. Besonders seit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine befürworten einige führende Politiker und Wissenschaftler sogar eine – direkte oder indirekte – atomare Aufrüstung Deutschlands.

Der Beitrag erschien am 7.8.25 in jungle.world 2025/32

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Detlef Zum Winkel

Detlef zum Winkel, ursprünglich Physiker. Lebt in Frankfurt am Main und schreibt vornehmlich für die Berliner Wochenzeitung Jungle World. Betreut dort u.a. die Themen Atomenergie und Proliferation.