Atom-Forschungsreaktor Berlin: Strukturelle Verantwortungslosigkeit

Nach mehr als einem Jahr Stillstand ist der älteste Atomforschungsreaktor Deutschlands am 28. März wieder in Betrieb genommen worden. Der Forschungsreaktor BER II in Berlin-Wannsee ist zwar klein und hat nur wenige Kilogramm Brennelemente als radioaktives Inventar, aber dennoch bildet er ein hohes Gefahrenpotential: Denn er besitzt kein Containment und ist technisch völlig veraltet. Gegen die Wiederinbetriebnahme wehrt sich das Berlin / Potsdamer Anti-Atom-Bündnis.

Aufgrund einer kleinen Anfrage der Piratenpartei zur Sicherheit des Forschungsreaktors, die im Berliner Abgeordnetenhaus im Januar behandelt wurde, kam es im März 2012 zu Anhörungen von Sachverständigen im Umweltausschuss des Berliner Landtages. Dabei kamen einige neue interessante Details ans Tageslicht.

Der Gutachter des Anti-Atom-Bündnisses Alf Jarosch fasste die Expertise, die er zusammen mit Udo Holländer erstellt hatte, zusammen: Bei einer möglichen Kernschmelze des Reaktors werden bis zu 72.000 Terabequerel (TBq) freigesetzt.

„Nach der siebenstufigen internationalen Bewertungsskala für bedeutsame Ereignisse in kerntechnischen Anlagen (INES) wäre dieser Unfall dann mindestens der Stufe 6 „Schwerer Unfall“ zuzuordnen, deren Kriterien sind: Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Umgebung in einem Ausmaß, das radiologisch einigen Tausend bis einigen Zehntausend TBq Jod 131 entspricht,“ so Jarosch. Katastrophenschutzmaßnahmen wären in vollem Umfang erforderlich, um Gesundheitsschäden in Grenzen zu halten. Mehrere Hunderttausend wären vom GAU Stufe 6 betroffen. „Bemerkenswert ist, dass bei einer Kernschmelze des BER II immerhin fast 10% der Radioaktivität freigesetzt würde, die bei der Kernschmelze in drei (!) Reaktoren in Fukushima in die Umgebung gelangte. Dies ist damit zu erklären, dass der Atomreaktor BER II über keinerlei Schutzmaßnahmen (Containment) verfügt, weil diese im Normalbetrieb auch nicht erforderlich sind. Im angenommenen Havarie-Fall führt dies dann aber zu den dargestellten katastrophalen Werten, die um den Faktor 40 (!) über den aktuellen Aussagen des Betreibers liegen.“

Zu den Altlasten auf dem Gelände schreiben Jarosch / Holländer: Der alte BER I liegt verbuddelt auf dem Gelände, „da wurde der Reaktor irreversibel in radioaktiven Abfall verwandelt, der in die Landessammelstelle ZRA vor Ort überführt wurde. Dies hat zur Folge, dass die Kontrolle des sicheren Einschlusses dieser Reaktorreste seitdem jeglicher externer Überprüfungsmöglichkeit entzogen ist.“

Das Zwischenlager ist übervoll mit schwach- und mittelaktivem radioaktiven Müll aus Berlin-Brandenburg. In früheren Zeiten wurde er teils direkt auf dem Gelände verbrannt. Der Rest, 757 Kubikmeter (entspricht ca. 50 Castorbehältern) lagert auf dem Gelände in einer einfachen Halle mit Wellblechdach. Ende März 2012 wurde durch eine Antwort auf eine Anfrage der Grünen im Bundestag bekannt, dass derzeit nur 550 Kubikmeter dort lagern. Wo die restlichen 200 Kubikmeter geblieben sind, kann weder die Bundesregierung noch die zuständige Atomaufsicht beim Berliner Senat erklären. Warum wird die Öffentlichkeit nicht über den Verbleib des Atommülls zeitnah aufgeklärt?

Zu dem Verbleib der Brennelemente erklärte Jarosch:

„Nach Aussagen des Betreibers sind alle abgebrannten Brennelemente des damaligen hoch angereicherten Uran-Kerns in den Jahren 1997 bis 2000 in die USA zurück transportiert worden. Seitdem haben nur zwei weitere Transporte von abgebrannten Brennelementen stattgefunden. Es ist daher davon auszugehen, dass auf dem Gelände des Betreibers nennenswerte abgebrannte Brennelemente ungesichert zwischengelagert werden. Der Betreiber selbst gibt an, zusammen mit den beiden noch verbliebenen Forschungsreaktorbetreibern in Garching und Mainz an den Voraussetzungen für eine Zwischenlagerung abgebrannter Brennelemente zu arbeiten, hat aber bisher offensichtlich noch keine Lösung dieses Problem gefunden. Es sollte also dringend geklärt werden, ob und wenn ja in welchen Behältnissen abgebrannte Brennelemente auf dem Gelände verblieben sind und wie sie gelagert sind.“

Als zweiter Sachverständiger kam der ehemaligen Konstruktionsleiter des BER II Thilo Scholz zu Wort. Er verwies auf drei technische Schwachpunkte des Reaktors:

  1. Es gibt einen Riss in einer Kühlmittelleitung, das Rohr ist aus versprödetem Material. Dieser Riss, der zunächst von der HZB geheimgehalten wurde, ist nur sehr schwer und kostenintensiv zu reparieren.
  2. Das ausgetauschte konisches Strahlrohr für den Neutronenfluss ist aus einer technisch veralteten Aluminiumschmiede. Es ist kein moderner Aluminiumguss, dazu noch unsachgemäß angeschraubt und gegen zu geringen Druck ausgelegt im Fall einer Explosion. Der Vorteil des verwendeten alten Materials für den Betreiber war dabei: bei dieser Methode bedurfte es keiner neuen Betriebsgenehmigung.
  3. Was passiert wenn der Druck steigt infolge eines Absinkens des Wasserspiegels in einem der beiden Kühlbecken? Die Rissbildung im Kühlmittelrohr könnte sich schlagartig vergrößern, das Rohr platzen und das Kühlbecken leer laufen. Folge: die Brennstäbe wären ohne Kühlung und eine Kernschmelze unvermeidbar.

Als dritter Sachverständiger war der Physiker Wolfgang Liebert von der Technischen Universität Darmstadt geladen und auch er warnte vor den Folgen der Wiederinbetriebnahme: das Schutzkonzept von BER II sei veraltet. Zudem gebe es in Wannsee, anders als etwa beim Forschungsreaktor Garching bei München, keinen Schutz vor Flugzeugabstürzen. Liebert sprach sich indirekt für die Stilllegung aus:„Dieser Reaktor wäre heute nicht mehr genehmigungsfähig.“ Wenn im BER II doch etwas schief gehe, könne dies dramatische Folgen sowohl für die Bevölkerung als auch für die Wissenschaft haben, die sich häufig zu wenig um die Folgen ihres Tun kümmere: „Man könnte auch fragen: Gibt es hier nicht eine strukturelle Verantwortungslosigkeit der Physiker?“

Eine Schließung des Forschungsreaktors in Wannsee, so Wolfgang Liebert weiter, bedeute nicht zwangsweise das Ende der Neutronenforschung in Berlin, für die der Reaktor vor allem genutzt wird. Ihre Experimente könnten Wissenschaftler auch an Alternativstandorten wie Garching oder Grenoble durchführen. Zudem werde derzeit im schwedischen Lund ein neuer Standort errichtet, der auch vom Helmholtz-Zentrum-Berlin unterstützt werde.

Zum Schluss erinnerte Wolfgang Liebert daran, dass es das von Thilo Scholz skizzierte Gefährdungsszenario schon einmal Anfang der 90 er Jahre in Grenoble gegeben hatte. Auch dort wurden technisch veraltete Materialien verwendet und auch dort bewirkte der ständige Neutronenfluss eine Versprödung des Materials. Im Unterschied zum Berliner Reaktor wurde in Grenoble die Forschungsatomanlage allerdings aufwendig umgerüstet.

Die ‚Grünen‘ haben sich von Befürwortern im letzten Wahlkampf zu Skeptikern des Weiterbetriebs gewandelt. Die Abgeordnete der Grünen Felicitas Kubala warnte vor einer vorschnellen Inbetriebnahme und verlangte eine stärkere Einflussnahme des Senats von Berlin: Der Reaktor werde zu zehn Prozent vom Land und zu 90 Prozent vom Bund finanziert. „Da könnte man doch wenigstens die neuen Richtlinien für Forschungsreaktoren abwarten, die gerade von der Reaktorsicherheitskommission erarbeitet werden.“Frau Kubala bezweifelte darüber hinaus die Unabhängigkeit des TÜV Rheinland bei der Begutachtung des Stresstestes. Denn welcher Gutachter werde seine alten Genehmigungsgutachten heute neu neutral bewerten? Derselbe TÜV habe auch in der Vergangenheit die entscheidenden Gutachten zur Erteilung der Betriebsgenehmigung angefertigt.

Der Sachverständige vom TÜV Rheinland blieb in seinen Äußerungen blass und wusste in seinem mündlichen Vortrag nichts zu einer möglichen Gefährdung zu sagen. Deutlicher ist dafür das schriftliche Gutachten zum Stresstest vom November 2011:„Der BER II ist nicht gegen Flugzeugabsturz ausgelegt, vielmehr wird bei einem Absturz von Hubschraubern, schnell fliegenden Militärmaschinen und Zivilflugzeugen von einer Zerstörung des Reaktorgebäudes ausgegangen,“ … und dann tritt nach 20 Minuten die Kernschmelze ein, wie das damalige Hahn-Meitner-Institut in einer Computersimulation 1994 dargelegt hat.
Wie sehr diese schwerwiegenden Sicherheitsbedenken bei den Befürwortern abprallen, zeigt sich in der Stellungnahme der Sprecher der Partei ‚Die Linke‘ Albers und Lompscher vom 7. März zu einem Aufruf des Anti-Atom-Bündnisses für die sofortige Stilllegung des Reaktors. Sie weisen alle Kritikpunkte zurück, plädieren für eine rationale Diskussion und warnen vor einer „Emotionalisierung“. Die Linke hingegen bagatellisiert wie der Berliner Senat und die Atombetreiber das Problem: „In dem Aufruf wird weiterhin behauptet, radioaktive Abfälle seien auf dem Gelände des HZB unter unzureichenden Bedingungen gelagert. Das ist falsch. Der Forschungsreaktor selber verbraucht im Jahr etwa 14 Brennelemente. Dabei fallen ca. 168 g Plutonium an. Diese werden nicht in der Zentralen Sammelstelle gelagert, sondern verbleiben bis zu ihrem Abtransport in einem Absetzbecken unter dem eigentlichen Reaktorbecken. Der Abtransport der ausgebrannten Elemente findet alle drei bis vier Jahre statt.“ In der erwähnten Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Grünen ist von 830 g PU die Rede – das ist waffenfähiges Pu – eine ungeheure Menge! Schon wenige Milligramm reichen um einen Menschen tödlich zu verstrahlen, bei weniger als 0,0004 Milligramm wird die Jahresdosis (20 mSv) eines Menschen erreicht.

Für die Partei ´Die Linken´ ist trotzdem alles, was auf dem Gelände des BER II passiert, sicher: „In den letzten 5 Jahren war es unsere linke Senatorin Katrin Lompscher, die für diesen Reaktor politisch verantwortlich war. Sie ist ihrer Aufsichtspflicht sorgfältig nachgekommen. Die Sicherheit der Anwohnerinnen und Anwohner stand dabei immer an erster Stelle.“

Doch diese Sicherheit ist relativ: Dass das HZB Störfälle im Forschungsreaktor verschwiegen bzw. zu spät gemeldet hat, übersieht die ‚Linke‘. Sie setzt ein hohes Vertrauen in den Betreiber, der der gleichen Forschungsgemeinschaft angehört wie jenes Münchner Helmholtz Zentrum, das die Vertuschungen, Fälschungen von Protokollen etc. in der Asse II zu verantworten hat.

Auch im Jahresbericht des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU): „Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung.“ von 2010 stehen Zahlen zum Forschungsreaktor, die es in sich haben: Die Jahresmittelwerte der Aktivitätskonzentrationen des gasförmigen Jod-131 von unter 0,5 mBq/m3 werden nur von den AKW’s Unterweser, Grohnde, Biblis und Neckarwestheim übertroffen. Am HZB wurden 72 Gigabecquerel Tritium im Jahr frei, im AkW Philippsburg 1 nur 38 Gigabecqerel Tritium, Philippsburg 2 nur 19 Gigabecquerel Tritium. Tritium, radioaktiver Wasserstoff, ist biologisch hochwirksam. Mit der Fortluft werden pro Jahr 460 Gigabecquerel (= Milliarden Becquerel) radioaktive Edelgase freigesetzt, fast doppelt so viel wie in Garching, dem Reaktor mit der doppelten Leistung, der auf einem freien Feld steht.

  • Keine andere deutsche Grossstadt leistet sich solch ein Strahlenrisiko für die Bevölkerung.

Hat Frau Lompscher diese Zahlen jemals zur Kenntnis genommen? Steht die Sicherheit der Bevölkerung wirklich an erster Stelle? Mittlerweile ist es eigentlich common sense, dass es keinen Grenzwert für eine ungefährliche Strahlung gibt. Das hat selbst die Weltgesundheitsorganisation im letzten Jahr anerkannt.

Für die Partei des sozialistischen Wandels hat aber dennoch oberste Priorität der „Erhalt des Wissenschaftsstandortes Berlin“ und dazu gehört eben auch der Forschungsreaktor, wo u.a. „medizinische Proben“ mit Hilfe der Neutronen untersucht werden (diese Aussage ist nebenbei eine glatte Lüge, aber sie kommt gut an in der ‚Bild‘-Öffentlichkeit). Selbst der Betreiber, das HZB gibt in seinem letzten Jahresbericht zu, dass nur bei 10 % ihrer Forschungen in Berlin der Reaktor von Relevanz ist.
Auch für die Partei ‚Die Linke‘ gilt: Profit und Wissenschaftsrenommée gehen vor Sicherheit. Beim Thema Atomforschung sind offenbar nicht nur die Physiker vom Bazillus der „strukturellen Verantwortungslosigkeit“ befallen.

Hauke Benner