Plädoyer gegen Atomkraft

24.000 Jahre!

Atommüll bleibt ein Risiko für die Menschheit, und deshalb gibt es keinen vernünftigen Grund, mit der Kernenergie weiterzumachen.
(…)
(Wir reden) mit der größten Selbstverständlichkeit davon, die Laufzeiten von Atomkraftwerken zu verlängern. Obwohl wir keine Ahnung haben, was zum Beispiel mit dem im Atommüll enthaltenen Plutonium-239 passieren soll. Hier gehen wir größte, die ganze Menschheit gefährdende Risiken offenen Auges ein.

Wir wissen, die Halbwertzeit von Plutonium-239 liegt bei 24000 Jahren. Wir wissen auch, dass es etwa zehnmal so lange dauert, bis die für Menschen tödliche Strahlung abgeklungen ist. Wir tun so, als habe die Frage der Endlagerung nichts mit der Laufzeitverlängerung zu tun. Wir tun allerdings schon seit Jahrzehnten so, als habe der Atommüll nichts mit der Nutzung der Kernenergie zu tun.

Wir sind eine begabte Spezies. Wir schaffen es vor dem, das uns nicht behagt, Augen und Ohren zu schließen. Wir sind taub und blind, wenn wir uns einbilden, es verschaffte uns einen Vorteil. 24000 Jahre! Die Höhlen von Altamira sind gerade mal geschätzte 18000 Jahre alt. Wir würden die Menschen, die die Höhle bemalten, nicht für unseresgleichen halten. Und nun gar vor 240000 Jahren! Da gab es noch keinen Homo sapiens. In unseren Breiten stritten damals Homo heidelbergensis und der Neandertaler um die Vorherrschaft.

Aber die Herren von Siemens und RWE interessiert das nicht. Sie wiederholen nur gebetsmühlenartig, ihre Kernkraftwerke seien sicher. Wie soll man ihnen das glauben, wenn sie schon an den alleroffensichtlichsten Risiken ihrer Produktion so wenig interessiert sind? Es gibt niemanden, der sagen kann, wie die Plattentektonik der dünnen Erdkruste sich kommenden Herbst
verhalten wird. Auch nicht der Vorstandsvorsitzende von Siemens, der Villacher Gastbauer Peter Löscher. Wagt er eine Wette darauf, wo und wann es – um vom Harmlosesten zu reden – zum nächsten Vulkanausbruch kommen wird? Kein Forschungsinstitut der Welt kann uns sagen, wo auf oder in der Erde in den nächsten 200000 Jahren garantiert nichts geschehen wird. Niemand weiß, was über diesen Zeitraum passiert mit der Erde, der Menschheit oder gar Herrn Löschers  Containern.

Die Frage nach einem sicheren Endlager, heißt es, sei noch nicht gelöst. Das ist völlig verkehrt. Sie ist längst in aller Eindeutigkeit gelöst: Es gibt kein sicheres Endlager. Es gibt nur Menschen, die von der ganzen Sache nichts mehr hören wollen und deshalb lieber nicken als gegen den offensichtlichen Unsinn anzuschreien.

Natürlich ist der radioaktive Abfall aus Kernkraftwerken nur ein Bruchteil des Atommülls überhaupt. Achtzig Prozent der radioaktiven Abfälle stammt aus dem Uranabbau. Wie viel Abfall bei den militärischen Anwendungen entsteht, weiß wahrscheinlich niemand. Aber das ist ein guter Grund, auch gegen diese Aktivitäten zu protestieren. Ganz sicher ist es kein Grund, bei der ´friedlichen Nutzung´ der Kernenergie einfach weiterzumachen.

Im Augenblick gibt es etwa 14000 Tonnen Atommüll aus deutschen Kernkraftwerken. Mit dem müssen wir – je nach Radioaktivitätsgehalt – Jahrhunderte bis Jahrtausende oder Jahrzehntausende leben. Im Jahre 2022, also bei Einhalten der Auslauffrist, wären es knapp 18000 Tonnen. Verlängerten wir die Laufzeiten um zehn Jahre, so hätten wir mit 21000 Tonnen zu rechnen, bei 20
Jahren mit 26000 und bei dreißig hätten wir unseren Ist-Stand etwa verdoppelt.
(…)
Wären wir wirklich an unserer Sicherheit interessiert, wir hörten auf mit der Kernenergie und wir sorgten – aus nichts als nacktem Überlebenstrieb – für Sicherheitsverwahrung für ihre Befürworter. Aber: die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen. Wer einen umbringt, ist ein Mörder, wer zehn ins Jenseits befördert, ein Held, wer es mit Hunderten oder Tausenden tut, ein Staatsmann.

Nun ist, was ein vernünftiger Artikel werden sollte, oder doch wenigstens ein Appell an die Vernunft, am Ende ein unkontrollierter Wutanfall geworden, ein Ausbruch aus den schönen Ritualen des Dialogs, die wir für ein ziviles Leben brauchen, die aber auch dafür sorgen, dass die, die das Sagen
haben, es weiter haben werden und vor allem weiter tun werden, was sie für richtig halten. Manchmal kann man sich nicht beherrschen, man muss es sagen und dann schämt man sich, dass man so aus der Haut fuhr. Aber man konnte nicht anders und man ist ein klein wenig froh darüber. Denn man nimmt es als Lebenszeichen.

Arno Widmann FR 19.08.10 (leicht gekürzt)