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Countdown zum Atomausstieg

20. Februar. Heute sind es noch 55 Tage bis zum 15. April, dem Datum, an dem die letzten drei Atomkraftwerke in Landshut (Isar-2), Lingen (Emsland) und Heilbronn (Neckarwestheim-2) abgeschaltet werden sollen. So sieht es die geltende Rechtslage vor, nachdem der Bundestag im Oktober das Atomgesetz geändert und den ursprünglichen Abschalttermin vom 31.12.2022 um etwas mehr als hundert Tage aufgeschoben hat. Die Politik wäre gut beraten, einem Wort des ältesten Abgeordneten im Parlament, Wolfgang Schäuble, zu folgen, der in seiner Zeit als Finanzminister mahnte, Regel seien dazu da, befolgt zu werden. Allerdings hat er damit die Griechen gemeint. Bei der Atompolitik kann man sich darauf nicht verlassen, auch auf Schäuble nicht.

In Belgien beispielsweise wurde der für 2025 geplante Atomausstieg von der Regierung einstimmig aufgehoben. Auch die grünen Minister*innen willigten ein. Tinne Van der Straeten, Mitglied der flämischen Groen-Partei, die das Energieressort innehat, schlug diese Wende schon am 16. März 2022 vor, Begründung: der Ukrainekrieg. So hat Belgien zwar endlich die Risse-Reaktoren Doel-3 und Tihange-2 stillgelegt. Dafür sollen die etwas jüngeren Reaktoren Doel-4 und Tihange-3 bis 2035 weiterlaufen. Belgien exportiert zwar Strom, und ein Engpass ist weit und breit nicht in Sicht, aber ein Gutachten, das der Netzbetreiber bestellte, sagt einen Strommangel im Winter 2026/27 voraus. Ach herrje! Und was ist mit dem Winter 2036/37? Der wird bestimmt auch ganz hart. Diese Leute haben noch nicht verstanden, dass die heißen Sommer das Problem sind, nicht die (vermeintlich) kalten Winter.

Das Umfallen der belgischen Grünen, die auf ihren Webseiten einfach mal nichts dazu erklären, macht den deutschen Nuklearisten natürlich Appetit. Auch bei uns finden sich mächtige Industrieorganisationen, unterstützt von der Union, der FDP und der AfD, nicht mit dem Ausstieg ab. Zwei weitere Jahre AKW-Betrieb verlangen die Vorsitzenden von 14 Verbänden der Metall- und Elektroindustrie, durchweg männlichen Geschlechts, in einem Offenen Brief an die Politik, den die Lobbyorganisation Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft verbreitet. „Alle verfügbaren Energieträger müssen schnellstmöglich ans Netz oder weiter betrieben werden“, fordert auch der Verband der Chemischen Industrie, „erneuerbare Energien genauso wie Kohle- und Kernkraft.“

Beunruhigend ist, dass die Gewerkschaft IG BCE in Person ihres Vorsitzenden, Michael Vassiliadis, diese Forderung unterstützt, ohne dass der DGB widersprochen hätte. Vassiliadis leitet zusammen mit der Wirtschaftsweisen Veronika Grimm und dem BDI-Präsidenten Siegfried Russwurm die sogenannte Gaspreiskommission. Alle drei setzen sich für den Weiterbetrieb der AKWs ein. Damit kündigt sich der nächste Akt in diesem Theater an.

Alle Augen richten sich nun auf Wirtschaftsminister Robert Habeck. Er wird doch nicht … wie Tinne Van der Straeten? Habeck hüllt sich dazu einstweilen in Schweigen. Ein ADR Feature mit dem Titel „Der Energieschock“ zeigt ihn, wie er den Chemiegiganten BASF, den Stahlkonzern Salzgitter AG und andere energiehungrige Unternehmen besucht, um für seine Agenda zu werben. Sie sollen, wenn der beschleunigte Zubau an Wind- und Sonnenkraft genug Energie liefert, garantierte Billigpreise für grünen Strom erhalten, damit sie nicht in die USA abwandern, wo Präsident Biden mit Subventionen um sich wirft.

Der ARD-Beitrag stellt es so dar, dass die Bosse angetan sind von diesem ernsthaften und bedächtigen Minister, ja, dass sich vielleicht sogar überraschende neue Männerfreundschaften anbahnen. Wie schön. Aber es ist doch klar, dass die Topmanager Habeck das Gleiche erzählt haben, was ihre Interessensverbände ein ums andere Mal herunterbeten. Darum ist in diesem Fall wichtig, was die ARD nicht berichtet, weil es Habeck in den Gesprächen möglicherweise auch gar nicht vorgetragen hat: Dass es Regeln gibt, die zu beachten sind und dass der Atomausstieg folglich termingerecht umgesetzt werde. Oder wäre das zu konfrontativ? Ist es vielleicht zu demokratisch gedacht?

Beim Schlagwort „Energieschock“ kann man auch mal in die Vergangenheit zurückblicken. Einen Energieschock befürchtete die Opposition vor zwanzig Jahren, als eine rot-grüne Mehrheit den Atomausstieg beschloss; der war angeblich überhastet, übereilt, viel zu schnell, kopflos. Deshalb musste er 2010 rückgängig gemacht werden, damit man mit Hilfe von Atomstrom – natürlich nur als Übergangsenergie – in aller Ruhe die Erneuerbaren ausbauen könne. Das hielt freilich nur bis Fukushima 2011. Dann wollte man den Ausstieg eigentlich in zehn Jahren bewerkstelligen, aber – weil das doch so knapp war! – lieber in elf Jahren. Viele Energieschocks wurden damals prognostiziert, auch Schäuble warnte, man dürfe den Ausstieg nicht übertreiben. Doch die erneuerbaren Energien waren so erfolgreich, dass sich die Merkel-Regierung später alle Mühe gab, sie auszubremsen.

Jetzt also schon wieder Energieschock. Weil wir – mit Recht – kein russisches Gas mehr kaufen. Doch die Speicher sind gut gefüllt, und die Gaspreise sinken deutlich. Trotzdem sind die Strompreise viel zu hoch. Das hat mit dem Betrieb von drei Atomkraftwerken, die in Deutschland nur noch 5% der Elektrizität liefern, freilich nichts zu tun. Ihre Abschaltung wird den Strommarkt genauso wenig beeinflussen wie die Abschaltung von acht AKWs im Jahr 2011 und von sechs weiteren Nuklearmeilern zwischen 2015 und 2021. Tatsächlich hat niemand etwas davon gemerkt, nicht mal Markus Söder.

55 Tage bis zum 15. April sind vielmehr der verbleibende Zeitraum eines völlig überflüssigen „Streckbetriebs“, mit dem alte Brennelemente über den Standard hinaus abgebrannt werden. Sie sind die Verlängerung eines riskanten Zustands, wo man die periodisch fällige große Sicherheitsprüfung (PSÜ) der Kraftwerke schon vor drei Jahren eingespart hat, weil sie sich nicht mehr lohne. So sieht die hundertfach gegebene Versicherung aus, bei der Atomkraft habe immer die Sicherheit Vorrang. Die Atomgemeinde praktiziert das Gebaren, das man von ihr gewohnt ist: Tricks, Täuschungen, Regelverstöße, Intransparenz. Sie will sich noch nicht verabschieden.

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Detlef Zum Winkel

Detlef zum Winkel, ursprünglich Physiker. Lebt in Frankfurt am Main und schreibt vornehmlich für die Berliner Wochenzeitung Jungle World. Betreut dort u.a. die Themen Atomenergie und Proliferation.