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Spannungsrisskorrosion: nur ein französisches Problem?

Dass Frankreich seine „Freiheit und Unabhängigkeit“ dem Atomstrom verdanke, ist die unerschütterliche Überzeugung des derzeitigen Staatspräsidenten Emmanuel Macron. Es war auch die Überzeugung seiner Amtsvorgänger Nicolas Sarkozy, François Mitterrand oder Charles de Gaulle. Ohne diese Überzeugung schafft es niemand an die Spitze des Nachbarlandes, das mit seinen 56 Reaktoren zu einem echten Atomstaat geworden ist. Doch gerade wegen dieser vermeintlichen Stärke befinden sich unsere Freunde seit mehr als einem Jahr in ernsthaften Schwierigkeiten.

2022 gab es eine dramatische Häufung von Ausfällen im nuklearen Kraftwerkspark. Zeitweise war die Hälfte aller Reaktoren außer Betrieb. Infolgedessen machte die Betreibergesellschaft EDF (Électricité de France) einen Verlust von 17,9 Milliarden Euro, das schlechteste Ergebnis der Konzerngeschichte. Die Verschuldung stieg auf 64,5 Milliarden Euro, der langjährige Vorstandsvorsitzende Jean-Bernard Lévy musste seinen Posten räumen. Präsident Macron und seine Regierung trieben zu höchster Eile bei den Wartungen und Reparaturen an, um den Winter ohne größere Stromausfälle zu überstehen. Gleichwohl stand zu Beginn des neuen Jahres immer noch ein Dutzend leistungsstarker Meiler nicht zur Verfügung.

Frankreich, dessen Elektrizität zu 70% nuklear erzeugt wird, importiert seit Monaten kontinuierlich Strom aus Deutschland, dessen Energieversorgung in den Augen der Pariser Elite als unsicher und instabil gilt. Das kränkt den französischen Stolz und verunsichert die Anleger des Konzerns, der sich zu 85% in Staatsbesitz befindet. Nachdem die EU-Kommission in ihrem Taxonomie-Beschluss Atomenergie für nachhaltig erklärt hatte, dachten sie, es könne nur noch aufwärts gehen. Und nun das…

Als erste Ursache für die Ausfälle, die es in diesem Ausmaß noch nie gegeben hatte, wird ein Corona-bedingter Wartungsstau genannt. Während der Pandemie mussten viele Routinearbeiten wie z.B. die Auswechselung von Brennelementen aufgeschoben werden. Dann fehlten wegen der Unterbrechungen in den globalen Lieferketten dringend benötigte Ersatzteile. Aus den gleichen Gründen hatten sich die Maßnahmen der sogenannten grand carénage verzögert. Mit dieser Generalüberholung, bei der soweit möglich Verschleißteile in den Kraftwerken ausgetauscht werden, will EDF eine Laufzeitverlängerung um zehn Jahre erreichen; bei den älteren Reaktoren soll der Produktionszyklus auf fünfzig Jahre gestreckt werden. Deshalb war für das Jahr 2022 ohnehin ein anspruchsvolles Arbeitsprogramm vorgesehen.

Dann kam im Oktober 2021 etwas Unvorhergesehenes dazu. Im AKW Civaux, Département Vienne, wurden im Rahmen von Wartungsarbeiten am Reaktor 1 Risse „in der Nähe der Schweißnähte der Rohre des Notkühlsystems“ entdeckt, wie es in der Mitteilung von EDF heißt. Prüfungen an drei weiteren baugleichen Reaktoren, Block 2 in Civaux sowie zwei Blöcke im AKW Chooz nahe der belgischen Grenze, ergaben ähnliche Befunde. EDF musste die Wartung von Civaux verlängern und Chooz herunterfahren, um die betroffenen Teile in den Reaktoren auszutauschen.

Dabei handelt es sich um die modernsten und größten Reaktoren, die in Frankreich in Betrieb sind. Sie repäsentieren die sog. N4-Linie mit je 1450 Megawatt Leistung und sind noch keine 25 Jahre alt. Das jetzt aufgetretene Problem kommt nicht so überraschend, wie es im Allgemeinen dargestellt wird. Bereits 1998, während des Probebetriebs, ereignete sich am Reaktor Civaux 1 ein schwerer Störfall. Durch einen Riss im Primärkühlsystem traten über Nacht 300 Kubikmeter kontaminiertes Wasser aus, bevor die Techniker die Leckage stoppen konnten. Schon damals waren umfangreiche Nachrüstungen an den N4-Reaktoren erforderlich.

Doch die Hoffnung, das aktuelle Risse-Problem würde sich auf diesen Reaktortyp beschränken, trog. Nach und nach stellte sich heraus, dass immer mehr Reaktoren betroffen sind. Die Situation hat sich dermaßen verschärft, dass Frankreich inzwischen händeringend nach qualifizierten Schweißern sucht, um die erforderlichen Reparaturen vornehmen zu können. Dabei ist der verbreitete Eindruck, es gehe lediglich um das Notkühlsystem, das ja nur bei einem hoffentlich nie eintretenden schweren Störfall benötigt wird, falsch. Informationen über ein Leck im Primärkühlkreislauf von Civaux 1, das während der Reparaturarbeiten entdeckt wurde, und über die radioaktive Kontaminierung eines Schweißers in Cattenom belegen, dass auch am Hauptkühlsystem repariert wird. Betroffen sind demnach systemkritische Bauteile der Nukleartechnik. Wenn man die in Belgien und anderen Ländern gemachten Erfahrungen hinzunimmt, weist der alternde Nuklearpark Defekte bei Rohren, Ventilen, Pumpen, Reaktordruckbehältern und Dampferzeugern auf.

Nur in Deutschland nicht? Ja, diese Probleme sind hierzulande unbekannt, weil die periodische Sicherheitsprüfung mit Blick auf die bevorstehende Stilllegung bereits vor drei Jahren ausgesetzt wurde. Hier hält man es nicht für nötig, den Stahl von T-Stücken oder Rohrkrümmungen genauer unter die Lupe zu nehmen. Die deutschen Betreiber sind dem Präsidenten der französischen Atomaufsicht ASN dankbar, dass er die „Spannungsrisskorrosion“ als ein spezifisches Design-Problem der Reaktoren seines Landes bezeichnet hat (sein Interview mit Les Echos vom 23.1.2023 liegt leider hinter einer Bezahlschranke, wurde aber auszugsweise von den Bürgerinitiativen gegen das AKW Fechenheim verschickt). Dann braucht man ja in Emsland, Neckarwestheim-2 und Isar-2 nicht nachzusehen.

So etwas nennt man: Blindflug. Er soll Standjetzt noch 46 Tage anhalten.

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Detlef Zum Winkel

Detlef zum Winkel, ursprünglich Physiker. Lebt in Frankfurt am Main und schreibt vornehmlich für die Berliner Wochenzeitung Jungle World. Betreut dort u.a. die Themen Atomenergie und Proliferation.