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Kernfusion zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Nachdem die Bundesrepublik das Kapitel Stromerzeugung durch Kernspaltung weitgehend abgeschlossen hat, steht die Kernfusion als mögliche andere Atomenergie bereits vor der Tür. Die Frage liegt auf der Hand, wie sich dabei die Fehler vermeiden liessen, die bei der Kernspaltung gemacht wurden. Diese Reflexion müsste selbstverständlich sein, sie findet aber nicht statt, weil schon die Feststellung von Fehlern als grüne Ideologie gilt. Maßgebliche Teile von Wirtschaft und Politik können das nächste nukleare Abenteuer kaum erwarten, ohne das vorige verstanden zu haben.

Doch das Neue kann man nicht erfolgreich beginnen, wenn man die alten Hausaufgaben verweigert. Zu ihnen gehört an erster Stelle die Entsorgung des angefallenen Atommülls. In der Gesamtschau ist es absurd, mit Volldampf in die Kernfusion einsteigen zu wollen, während die nukleare Entsorgung, wie von der Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) verkündet, erneut verschoben wird. Die Öffentlichkeit nahm es, mit wenigen Ausnahmen, gleichmütig bis desinteressiert zur Kenntnis. Daraus ergibt sich ein erstes Kriterium: Wer kein Engagement bei der nuklearen Entsorgung nachweisen kann, darf sich bei der Fusionstechnik ganz hinten anstellen.

Ein konkretes Beispiel zeigt, wie diese beiden Themen zusammengehören: Für die Kernfusion wird Tritium benötigt, ein teures Wasserstoff-Isotop, weil es in der Natur praktisch nicht vorkommt. Es fällt in den herkömmlichen Reaktoren an, wo es als radioaktives Gas ziemlich unerwünscht ist. In der Ruine des Atomkraftwerks von Fukushima ist Tritium eine schwere Hypothek, und man steht kurz davor, Millionen Kubikmeter tritiumverseuchten Wassers in den Pazifik zu kippen. Müsste man nicht den Japanern, wenn sie das tun, signalisieren, dass man sie aus der internationalen Kooperation zur Kernfusion zwar nicht ausschließen kann, ihre Stimme aber fortan nichts mehr wert sei? Das Tritium-Management, das für die Kernfusion benötigt wird, lässt sich erlernen, wenn man die Weltmeere schont und Lösungen dafür findet, wie das radioaktive Isotop aus stillgelegten oder zerstörten Atomkraftwerken entfernt werden kann.

Das zweite Großthema, das eine intensive Beschäftigung verdient, ist die allgemein unterschätzte Komplexität. Manche verstehen darunter eine besonders ausgeklügelte Technik. Doch es geht um viel mehr. Vor neun Jahren ereignete sich der letzte große Atomunfall im US-Staat New Mexico, als bei der Konditionierung von Atommüllfässern ein falscher Katzenstreu benutzt wurde. Es klingt wie ein Witz, ist aber wahr: Im Atombombenlabor Los Alamos füllt man Katzenstreu als Mittel gegen Feuchtigkeit in die Fässer. Das ging lange Zeit gut, dann benutzten schlecht ausgebildete Angestellte monatelang ein falsches Produkt, das chemische Reaktionen auslösen kann. Ein schon eingelagertes Fass platzte, und die Atommüllanlage WIPP bei Carlsbad wurde mit Plutonium verseucht, sodass sie drei Jahre lang geschlossen werden musste. „We used the wrong kitty litter“ – wer kann so etwas voraussehen? Der kanadische Altmeister der Physik Hubert Reeves nahm den Vorfall zum Anlass zu erklären, warum die Nukleartechnik mit den Fähigkeiten und Schwächen der menschlichen Gattung nicht in Einklang zu bringen sei.

Das kümmert die Aktivisten der Kernfusion nicht. Ihnen geht es darum, ihre Maschinen zum Laufen zu bringen. Fusionsreaktionen in ausreichender Menge zu zünden, ist das große Ziel. Alles Andere wird auf später verschoben. Genau wie vor fünfzig Jahren bei der Kernspaltung.

In einem Gutachten von 2019 hat der Züricher Physiker Michael Dittmar einige der scheinbar nachgeordneten Probleme der Fusionstechnik benannt, die im Handumdrehen zu unüberwindlichen Hindernissen werden können. Eines davon ist die Umwandlung von erzielter Fusionsenergie in nutzbare Wärmeenergie und der dabei erreichbare Wirkungsgrad. Anders als bei der Kernspaltung befindet sich der Core eines Fusionskraftwerks nämlich nicht in einem Wasserbad, sondern in einer Vakuumkammer. Folglich prallen die Neutronen als Träger der gewonnenen Energie ungebremst auf die Innenwände des ringförmigen Tunnels, in dem das Fusionsplasma rotiert. Das hat eine extrem hohe Materialbeanspruchung zur Folge.

Dieser Schwierigkeit war man sich schon vor Jahrzehnten bewusst. In den Inhaltsverzeichnissen alter Ausgaben von wissenschaftlichen Publikationen finden sich viele Artikel zu den Materialanforderungen in zukünftigen Fusionsreaktoren. Dann hat man gemerkt, dass diese Studien der Kritik der existierenden Atomkraftwerke Argumente lieferten, weil es sich bei denen auf lange Sicht nicht anders verhält. Deswegen waren solche Untersuchungen bald nicht mehr erwünscht.

Mit Problemen kann man eben kein Geld machen. Wer wird einer Forschungseinrichtung oder einem Startup-Unternehmen Mittel geben, solange von unbewältigten Problemen die Rede ist? Also werden Erfolgsmeldungen und unhaltbare Ankündigungen herausposaunt, die dem Marketing dienlich sind. Wieder wird reproduziert, was bei der Spalttechnik falsch gemacht worden ist. Kurz gesagt: die Orientierung am wirtschaftlichen Profit.

Neben den wirtschaftlichen gibt es politische und militärische Interessen, die das Projekt einer friedlichen Zukunftstechnik gefährden. Bei der laserinduzierten Fusion ist das bereits umfangreich thematisiert worden. ICF-Experimente (inertial confinement fusion) dienen den Militärs als Ersatz für die früheren Atomtests. Wer sich dessen nicht bewusst ist oder diesen Kontext leugnet, eignet sich nicht für eine Förderung mit öffentlichen Mitteln. Beim kalifornischen Lawrence Livermore Institut, wo im letzten Dezember ein Durchbruch bei der Laserfusion verkündet wurde, materialisiert sich der verhängnisvolle Trend einer Verschmelzung von ziviler und militärischer Atomtechnik.

Angesichts dieses Trends, der ausgerechnet von dem Europäer Emmanuel Macron bekräftigt wurde, wären vermehrte Anstrengungen in der Politik der Nichtverbreitung von Atomwaffen erforderlich. Anstatt sich – als Nicht-Atomwaffenstaat und Ausstiegsland – für diese Aufgabe prädestiniert zu fühlen, erleben wir immer wieder aufflammende Debatten um einen deutschen Beitrag zu einer europäischen Atommacht. Wer mag unter solchen Umständen der Laserfusion vertrauen?

Anders sieht es mit ITER aus, dessen Konzept der Tokamak ist. Diese Fusionsmaschine, in der ein Plasma durch gewaltige Magneten zusammengehalten wird, ist militärisch nicht verwendbar und wird nach heutigem Wissen keinen Beitrag zu irgendeinem Siegfrieden leisten können. Doch das Interesse an der internationalen Kooperation geht derzeit zurück. Denn eine Politik, wie sie zu ITER geführt hat, nämlich eine Verabredung des damaligen US-Präsidenten Reagan mit dem damaligen Präsidenten der Sowjetunion Gorbatschow, gilt heute als Appeasement gegenüber Russland und jahrzehntelanger Irrtum. Das Dumme daran ist, dass der Tokamak ursprünglich eine sowjetische Erfindung war.

So oder so kommt die Fusionsenergie, wenn sie sich denn überhaupt realisieren lässt, für eine Bekämpfung des Klimawandels viel zu spät. Immerhin ist man bei ITER aufrichtig genug, dies einzugestehen.

Zum Schluss noch eine Anmerkung zur physikalischen Basis der Kernfusion. So, wie die Kernspaltung durch die Formel von Otto Hahn und Lise Meitner beschrieben wird, die den Ingenieuren zum Bau von Atomkraftwerken reichte, gibt es eine Fusionsformel, mit der die Nuklearbranche wiederum zufrieden ist. Sie lautet:

2D + 3T –> 4He + 1n + 17,6 MeV
D: Deuterium (Wasserstoff mit einem Neutron, auch als 2H geschrieben)
T: Tritium (Wasserstoff mit zwei Neutronen, auch als 3H geschrieben)
He: Helium
n: Neutron
MeV: Millionen Elektronenvolt (Energieeinheit)

Das kennen die Techniker, und diese Kenntnis halten sie für ausreichend, weil es ihnen im Grunde nur auf den Energiebetrag rechts in der Formel ankommt.

Eine Formel ist jedoch keine mathematische Gleichung, sondern eine stark vereinfachte Übersicht über ein, wie sich rasch herausstellt, auch im Mikrokosmos komplexes und schwer zu durchschauendes Ereignis. Eben das ist die Gefahr von Formeln: Sie täuschen ein Wissen vor, das in Wahrheit nicht vorhanden ist.

Oft wird die Fusionstechnik mit dem Sonnenfeuer verglichen. Was stimmt daran und was ist daran falsch? Fusionsreaktionen ereignen sich in der Sonne bei vergleichsweise „niedrigen“ siebenstelligen Temperaturen. Für Fusionskraftwerke auf der Erde benötigt man hundert Mal höhere Temperaturen. Das liegt daran, dass das Sonnenplasma durch die Gravitationskraft des riesigen Sterns zusammengepresst wird. Die Schwerkraft der Sonne spielt daher bei der natürlichen Fusion eine entscheidende Rolle. Ohne die Gravitation käme die solare Kernfusion nicht zustande.

Die Rolle der Gravitation soll bei der künstlich erzeugten Fusion von elektromagnetischen Feldern eingenommen werden. Der Fusionsformel ist das egal. Weder die eine noch die andere Umgebung kommt in ihr vor. Sie schreibt sich ohne Rahmenbedingung, das ist realitätsfremd im wörtlichen Sinne. Um eine Fusion zweier Atomkerne zu verstehen, reicht es nicht, mit Größen der klassischen Physik zu operieren wie z.B. Druck, Dichte, Temperatur, Feldstärke, Geschwindigkeit. Die klassischen Begriffe und die damit verbundenen Vorstellungen haben in der Welt der Atomkerne nur noch begrenzten Wert.

Vielleicht kann eine Metapher helfen, diesen Ansatz nachzuvollziehen. Die Physik, wie sie nun einmal ist, reicht von der Alchimie bis zur (physikalischen) Mathematik. In der derzeitigen Außendarstellung hat die Alchimie ein klares Übergewicht. Wenn die Fusionsforschung ihrem behaupteten Ziel gerecht werden will, muss sie ihre Richtung so ändern, dass die Mathematik wieder zum Zug kommt. Das können wir, wie gesagt, allerdings nur mit denjenigen diskutieren, die ihren Verstand bei der Priorisierung der Aufgaben bewiesen haben. Die Entsorgung des Atommülls hat Vorrang, auch für die Wissenschaft.

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Detlef Zum Winkel

Detlef zum Winkel, ursprünglich Physiker. Lebt in Frankfurt am Main und schreibt vornehmlich für die Berliner Wochenzeitung Jungle World. Betreut dort u.a. die Themen Atomenergie und Proliferation.