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Irrer Überbietungswettbewerb
Im Südwesten Englands errichtet das französische Energieunternehmen EdF das Atomkraftwerk Hinkley Point C mit zwei EPR-Reaktoren (Europäischer Druckwasserreaktor) zu je 1600 Megawatt. Die wechselvolle Geschichte dieses Projekts wird aktuell von neuen Kostenschätzungen gekrönt. Zuerst die BBC und dann auch FAZ und Spiegel nannten schwindelerregende Zahlen. Demnach kalkuliert EdF zur Zeit mit über 40 Mrd Pfund, wobei den Angaben von BBC – 46 Mrd GBP – am ehesten zu trauen ist, da die Leithammel der deutschen Medienlandschaft den Atomausstieg immer noch nicht verwunden haben. Umgerechnet sind das 54 Mrd Euro. Gemessen daran, was ein EPR ursprünglich hätte kosten sollte, ist diese Nachricht ein Volltreffer gegen die ewige Kampagne der Lobby, wonach Atomstrom sicher, sauber und billig sei.
Je nach politischer Couleur wird mit den Zahlen jongliert: die FAZ setzt erstaunlicherweise 10 Mrd GBP weniger an als BBC und errechnet somit eine Kostensteigerung von nur einem Drittel. Argumentiert wird mit einer Inflationsbereinigung, aber sorry, so heftig sind nicht einmal die Benzinpreise gestiegen.
Um den Zahlensalat zu entwirren und besser vergleichbar zu machen (etwa zu Flamanville-3 oder Olkiluoto-3 mit je einem EPR), wird im Folgenden auf Euro umgerechnet. Außerdem sollte man nicht die Schätzungen bei Baubeginn zugrunde legen, sondern die Angaben, die beim offiziellen Start des jeweiligen Projekts gemacht wurden, also beim Beschluss durch die Regierung, im Fall Hinkley durch die Cameron-Regierung (2010-2016).
Projektstart für Hinkley C war im Jahr 2013. EdF rechnete damals mit 19 Mrd Euro. Das schien plausibel zu sein: auch für Flamanville und Olkiluoto nannte das Unternehmen zu dem Zeitpunkt ähnliche Summen, nachdem man anfangs geglaubt hatte, mit 3,3 Mrd (!) auszukommen. Im Dezember 2012 war man bzgl. Flamanville bereits bei 8,5 Mrd angekommen. Da war es nicht ungewöhnlich, dass EDF nochmal eine Milliarde pro britischem Reaktor drauflegte.
Vor zwei Jahren gab EdF die Baukosten für Flamanville mit 12,7 Mrd an; hinzu kämen aber noch 5 Mrd Finanzierungskosten und weitere kleinere Beträge. Jedenfalls wird seitdem von knapp 20 Mrd Euro für Flamanville, also für einen EPR, gesprochen.
Zurück zu Hinkley: Wenn das AKW jetzt (das ist ja noch nicht das Ende der Fahnenstange) bei 54 Mrd Euro angelangt ist, dann handelt es sich um das 2,8-fache der anfangs verkündeten Kosten. Ein EPR kostet demnach zur Zeit 27 Mrd. Stilllegung und Entsorgung sind darin natürlich nicht enthalten. Das sind Größenordnungen, die nicht nur die Investitionen für erneuerbare Energien canceln werden. Eine nukleare Energiewirtschaft wirkt sich auch auf die Sozialpolitik, die Bildungspolitik, die Landwirtschaft aus – sie bringt das gesamte gesellschaftliche Gefüge durcheinander.
Doch die Regierungen von Großbritannien, Frankreich und jetzt auch Schweden, bestückt mit Minister*innen, die allesamt auf Marktwirtschaft schwören, beeindruckt das nicht. Ungerührt verkündet der französische Präsident Macron, nicht nur sechs sondern noch acht weitere neue Reaktoren bauen zu wollen, zusammen also vierzehn, während der britische Premier Sunak die nuklearen Kapazitäten seines ihm ausgelieferten Landes vervierfachen will, ohne dass ihm die Labour Opposition widersprechen würde. Auch Schweden bereitet eine Nuklearwende vor, neidisch kommentiert von Wirtschaftsjournalisten in großen deutschen Medien: ach haben die’s gut, aber wir dürfen ja nicht, weil die Leute bei uns „ideologisch verbohrt“ sind.
Da darf die kriegsgebeutelte Ukraine nicht fehlen. Energieminister Haluschtschenko kündigte die baldige Erweiterung des AKW Chmelnyzkyj mit westlicher Hilfe an. Die Blöcke 3 und 4, zwei nicht fertiggestellte Ruinen aus den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, sollen weitergebaut und mit neuen Blöcken 5 und 6 des US Unternehmens Westinghouse ergänzt werden. Dies ist offenbar der erste Auftrag für die neuen Eigner von Westinghouse, die Investmentgesellschaft Brookfield und die kanadische Uranminen-Gesellschaft Cameco: Beide besitzen keine eigenen Erfahrungen im Kraftwerksbau. Das Atomkraftwerk, um das sie sich jetzt kümmern wollen, trägt bezeichnenderweise den Namen eines berüchtigten antisemitischen Kosakenführers aus dem 17. Jahrhundert.
Ein Jahr nach dem deutschen Atomausstieg werden wir Zeuge eines irrsinnigen Wettbewerbs, in dem sich die Nuklearisten europäischer Staaten gegenseitig mit wahnhaften Plänen überbieten. Bei ihnen ist jeder Bezug zur Realität verloren gegangen, da keines der genannten Länder in der Lage wäre, die verkündeten Projekte aus eigener Kraft zu stemmen. Alle schielen natürlich auf die EU.
So ist auch Hinkley C bzw der EPR nicht nur eine Geschichte von Kostenexplosionen, sondern ein finsteres Kapitel in der Geschichte der EU. In geistiger Umnachtung hatte der frühere britische Premierminister Cameron das Brexit-Referendum von 2016 benutzt, um die EU-Kommission dazu zu bewegen, dem Nuklearprojekt zuzustimmen, obwohl es den Wettbewerbsregeln der EU widersprach (worauf damals die österreichische Regierung Faymann pochte). In Brüssel erreichte er, was er wollte. Doch die erpresserische Taktik bedingte ein ständiges Stänkern von London gegen Brüssel, womit Cameron ungewollt die Brexiteers beflügelte. Er verlor die Kontrolle über das Geschehen, und der Rechtspopulismus triumphierte. Zum ersten Mal trat das Zusammenspiel der Atomindustrie mit Rechtspopulisten und Faschisten auf den Plan. Inzwischen ist aus dem Zusammenspiel ein Bündnis geworden. Ob in Großbritannien, Frankreich, Schweden, Italien, Deutschland oder in den osteuropäischen Ländern, überall treten Rechtsextremisten als Nuklearfanatiker auf. Und überall gelingt es ihnen, die gemäßigten Konservativen vor sich her zu treiben.
Dieses Bündnis ist einer der Gründe für den absurden Überbietungswettbewerb dieser Tage. Die Regierungen in London, Paris und Stockholm versuchen die rechte Wählerschaft zufrieden zu stellen und bei der Stange zu halten. Prototypisch nimmt Macron dem Rassemblement National den Wind aus den Segeln, indem er selbst so viele neue Reaktoren ankündigt, dass er von Marine Le Pen nicht mehr übertrumpft werden kann. Die Energiepolitik, eigentlich ein ernstes Thema, wird so zum Spielball wahlkämpferischer Erregungszustände. Es geht um Machtpolitik. Dabei kommt der so häufig beschworene Kampf gegen den Klimawandel zuerst unter die Räder.
Die zweite Ursache für die nukleare Ankündigungsorgie ist bei der EU-Kommission zu orten. Durch ihre Entscheidung, Atomenergie unter bestimmten Bedingungen als nachhaltig einzustufen, hat sie eine Gier nach Subventionen entfesselt, mit der sie wohl selbst nicht gerechnet hat. Denn erfahrene Europapolitiker in Ost und West kennen das ungeschriebene Gesetz der Europäischen Union: Wenn die Kommission etwas fördert, dann gibt es auch Geld dafür und von diesem Kuchen muss man ein möglichst großes Stück abgreifen. Das veranlasst die nationalen Regierungen, ihre ohnehin vorhandenen nuklearen Ambitionen auf die Spitze zu treiben, um sich von den erwarteten Subventionen einen möglichst großen Anteil zu sichern.
Dieses schmutzige und zugleich lächerliche Spiel ist alles, was von den hochfliegenden Plänen übriggeblieben ist, mit dem europäischen Taxonomie-Beschluss private Kleinanleger zu animieren, ihre Rücklagen sogenannten „grünen Fonds“ anzuvertrauen, die wiederum in Nuklearprojekte investieren sollten. Das Kalkül ist offensichtlich nicht aufgegangen – der Riese EdF konnte nur durch Verstaatlichung gerettet werden. Zwar schimpft der gemeine Rechtspopulist über die „grünen Utopisten“, er jammert über die Strompreise, betet die Nuklearenergie an und bekommt ohne ihren Strom sofort kalte Füße – aber in Atomfirmen investieren? Das käme für die Rechtspopulisten allenfalls infrage, wenn der Staat ihnen garantieren würde, für Verluste aufzukommen. Gleichzeitig wettern sie gegen Staatsschulden und beanspruchen „wirtschaftliche Vernunft“ für ihre Ansichten. Das ist der lächerliche Aspekt bei diesem Thema.
Es bleibt noch zu erwähnen, dass alle bei EdF vertretenen Gewerkschaften 2016 davor warnten, das Hinkley Projekt werde die Existenz von EdF bedrohen. Der damalige Finanzvorstand, Thomas Piquemal, verließ das Unternehmen aus eben diesem Grund. Der französische Rechnungshof veröffentlichte eine niederschmetternde Studie über das Projekt.
Diese Leute haben alle recht gehabt.