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Zum Beispiel Gorleben – Räume emanzipatorischer Praxis

Im Sommersemester bot das Institut für Geschichte und Theorie der Architektur und Stadt an der TU Braunschweig ein Seminar an, das sich mit den politischen und konkreten emanzipatorischen Räumen des Wendlands befasste. Neben dem Seminarprogramm gehörte auch ein Ausflug ins Wendland dazu. Gestern (8. Juli) fand das „Mapping“, die Vorstellung der Arbeitsresultate, am Institut statt.

Vom Tagungshaus Meuchefitz aus, wo Student*innen untergebracht waren, erkundeten sie Strecken, Dörfer, Widerstandsorte mit dem Fahrrad. Einer dieser „Räume“ war das Gelände rund um die Atomanlagen in Gorleben sowie weitere Versammlungs- und Erinnerungsräume. Und ein Picknick auf dem ehemaligen Gelände der Freien Republik Wendland, dem Hüttendorf auf der Bohrstelle 1004, rundete die Exkursion ab. Im Hüttendorf entstand ein freier Raum für den politischen Diskurs, alternatives Leben und Kultur – die Auswirkungen zu bemessen ist auch ein Projekt der Gegenwartsarchäologie.

Das Mapping, die Vorstellung der Seminarergebnisse, fand am 8. Juli an den Räumen des Instituts statt. Eine bunte Vielfalt der Präsentationsformen – Zeichnungen, Installationen, Filme, Performance etc. – ermöglichte einen Einblick in die Diversität des Zugangs zum Thema „emanzipatorische Praxis“ im Wendland. Die Arbeiten beschränkten sich nicht auf die Protestkultur im Kampf gegen die Atomkraft und Gorleben, es ging auch um den Umgang mit Geflüchteten, Zeitleisten, Dorfentwicklung und Kulinarisches – die Dichte von Bioläden, -märkten und Solidarischer Landwirtschaft.

BI-Sprecher Wolfgang Ehmke war als „Kommentator“ zum Mapping eingeladen und sprach gleich eine Gegeneinladung an das Seminar und die Dozent*innen aus: Die vielfältigen Ergebnisse sollten auch im Wendland präsentiert werden – als Anstoß für einen weiteren Austausch und die Selbstreflexion.

Gorleben Archiv. ​“Agency refers not to the intentions people have in doing things but to their capacity of doing those things in the first place (which is why agency implies power)…” (Anthony Giddens 1986:25). Foto: Tatjana Schneider.

Am 25. März 2019 jährt sich zum 40. Mal der Beginn des Gorleben-Trecks, eine der größten Demonstrationen Niedersachsens. Konkret richtete sich der Protest gegen das bei Gorleben im Wendland geplante Endlager für Atommüll der Energiewirtschaft. Während der Treck noch unterwegs ist und in Hannover das Gorleben-Hearing stattfindet, kommt es am 28. März 1979 im Atomkraftwerk Harrisburg, USA, zu einer partiellen Kernschmelze: ein Ereignis, das die schon länger existierende Anti-Atomkraft-Bewegung zu einer breiten Mobilisierung zivilgesellschaftlichen Widerstands in der Bundesrepublik ausweitet. Seitdem nimmt das Wendland auf der politischen Landkarte Deutschlands einen besonderen Platz ein, den unser Seminar unter die Lupe nehmen will. Wir wollen die Protestbewegungen von damals untersuchen, wollen verstehen, aus und gegen welche Strukturen und Wertsetzungen sich diese emanzipierten. Denn: was häufig unter dem Sammelbegriff ​‚Anti-Atom’ abgetan wird, war und ist weitaus vielschichtiger und -förmiger. So geht zum Beispiel die Gründung der Partei ​‚Die Grünen’ aus diesen Protesten hervor, die Frauenbewegung hat wichtige Impulse aus jener Zeit gezogen und auch auf räumlich-architektonischer Ebene wurden experimentelle Wohn- und Lebensformen entwickelt. Trotz einer immensen Heterogenität von Interessen sind hier neue Räume, neue Werte, neue Formen des Zusammenlebens und Entscheidens ausprobiert worden, die eine gemeinsame Zukunft möglich machen sollen. Es ging also nicht nur um Widerstand oder Protest, sondern um das aktive Aufzeigen und Entwickeln von Alternativen zu bestehenden Energie-, Wohnungs- und Politikkulturen.

Sommersemester 2019 (Master M1/2, Bachelor A3)
Prof. Dr. Tatjana Schneider, Dr. Martin Peschken, Licia Soldavini, Diana Lucas-Drogan

Fotogalerie Mapping, Fotos Tatjana Schneider

 

 

 

 

 

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Wolfgang Ehmke

Wolfgang ist langjähriger Pressesprecher der BI.