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Frankreich: Atomaufsicht besucht Atomkraftwerk
30 Tage vor der planmäßigen Abschaltung der letzten deutschen Atommeiler ist es aufschlussreich, an einem französischen Beispiel zu erleben, was so alles passieren kann, wenn ein 1300 Megawatt Reaktor an systemkritischen Stellen repariert werden muss.
Ein Protokoll der Geschäftsstelle Caen der französischen Atomaufsicht (ASN) beschreibt die am 30.5.2022 vorgefundene Situation im Block 1 des AKW Penly, südliche Normandie. Die darin berichteten Beobachtungen kamen aktuell in einem Parlamentsauschuss in Paris zur Sprache. Eine Kenntnisnahme dieses Berichts sei auch der FDP-Fraktion im Bundestag empfohlen, zur Vorbereitung des Tagesordnungspunkts „Technologieoffenheit“.
In Frankreichs Atomkraftwerken hat die Entdeckung von immer mehr Rissen in den Rohren, die das Notkühl- und Nachkühlsystem mit dem Hauptkühlkreislauf verbinden, zu zahlreichen Prüfungen und Reparaturen geführt. Meist müssen die problematischen Rohrstücke dabei herausgeschnitten und ausgetauscht werden. Diese Arbeiten sind ziemlich heikel: sie müssen mit höchster Qualität durchgeführt werden, finden aber auf engstem Raum und in einer radioaktiven Umgebung statt. Also beschloss die für Penly zuständige regionale Atomaufsicht, dem Kraftwerk einen unangemeldeten Besuch abzustatten, um nachzusehen, wie das Entfernen eines Rohrstücks in der Praxis abläuft.
Und so sieht es dann aus, wenn Inspektoren sich vor Ort begeben und wirklich inspizieren: Der Standort musste „bis zur Beantwortung der wichtigsten Feststellungen am Tag der Inspektion gesperrt“ werden. Bei den Schneidearbeiten wurden „mehrere Abweichungen von den Bestimmungen (der entsprechenden Vorschrift) registriert“. Die Regeln zum Transport des abgeschnittenen (radioaktiven) Rohrstücks „schienen vom Betreiber nicht beherrscht zu werden“. Die Beaufsichtigung der Arbeiten durch den Betreiber war mangelhaft. Bei der verstärkten Überwachung der in Betrieb befindlichen Reaktoren, um ein eventuelles Leck frühzeitig erkennen zu können, ergaben sich Unsicherheiten in der Definition der kritischen Werte, auf die bei den Betriebsparametern geachtet werden muss.
Besonderes Augenmerk richteten die Inspektoren auf die Beauftragung von externen Unternehmen (Stufe 1) und deren Subunternehmen (Stufe 2) für die Ausführung der Arbeiten. Nicht alle Beschäftigten waren überhaupt angemeldet worden. Dokumente fehlten oder waren nicht vollständig ausgefüllt, im Organigramm der Dienstleister war eine Zuständigkeit für Strahlenschutz gar nicht erst vermerkt.
Es sah halt aus wie auf einer gewöhnlichen Baustelle, nur dass es hier leider um Hochrisikotechnologie geht.
Die Inspektoren waren der Ansicht, dass gesetzliche Vorschriften befolgt werden müssten, wonach bei derart kritischen Tätigkeiten der Auftragnehmer die Ausführung der Arbeiten durch Subunternehmer kontrollieren und dokumentieren müsse. Doch da stiessen sie auf fragende Gesichter. „Der Subunternehmer auf Stufe 2, der die Schneidearbeiten durchführte, teilte den Inspektoren mit, dass er keiner Überwachung unterzogen worden sei.“ Die Arbeitswelt hat ihre eigenen Gesetze. Wie soll man Tätigkeiten kontrollieren, wenn man die Namen der Ausführenden nicht kennt und deren Sprache vermutlich auch nicht versteht? Da kann man es gleich bleiben lassen.
Da das Schneiden und Schweißen im Innenbereich eines Reaktors als hohe radiologische Belastung eingestuft wird, sind entsprechende Strahlenschutz-Vorschriften einzuhalten, zu denen die tägliche Kontrolle und Dokumentation der Dosimeter gehört. Die Daten sind in einem fortlaufenden Bericht festzuhalten. Am Tag der Inspektion war das nicht der Fall. Die Aufgabe des Strahlenschutzes war einem Subunternehmen übertragen worden, das vom Betreiber des AKWs allerdings noch nicht als Unterauftragnehmer angegeben worden war. Der anwesende Angestellte dieser Firma gab an, „dass sich seine Rolle auf die Erstellung von Karteikarten beschränkte und dass er weder den Fortgang der individuellen Dosen der eingesetzten Arbeiter noch des Ein- und Ausgangs von Geräten im Einsatzbereich kontrollierte“. So konnte auch nicht darauf geachtet werden, die Beschäftigten so einzuteilen, dass sich eine halbwegs gleichmäßige Verteilung der radioaktiven Belastung ergibt. Diese zeigten sich über ihren Einsatz in einer „orangenen Zone“ nicht vollständig informiert. – Strahlenschutz, Arbeitsschutz, Datenschutz, alles bloß grüne Ideologie, oder?
Bevor eine bestimmte Schweißnaht durchtrennt wurde, war ein radioaktiver Hotspot in der Nähe dieser Stelle diagnostiziert worden. Das für solche Situationen zuständige Gremium setzte die maximale Dosisleistung im Hinblick auf das Kontaktrisiko mit dem Hotspot hoch, ergriff aber keine weiteren besonderen Maßnahmen. Ein Warnschild am Arbeitsplatz fehlte ebenso wie die Anbringung eines Schutzschirms um die Rohrleitungen.
Um das Herausschneiden des abzutrennenden Rohrstücks möglichst schonend zu gestalten, sind darunter temporäre Stützen anzubringen, die bis zum Einsetzen des Ersatzteils an Ort und Stelle verbleiben sollen und erst nach Abschluss der Arbeiten entfernt werden dürfen. Die beteiligten Firmen fanden jedoch eigene improvisierte Lösungen besser.
Schon durchgeführte Arbeiten waren nicht in der geplanten und genehmigten Reihenfolge erledigt worden, ihre Dokumentation war lückenhaft, die dafür vorgesehenen Formulare waren handschriftlich geändert worden. Bei der erforderlichen Sauberkeitskontrolle der nach dem Schneiden zugänglichen Bereiche wurde auf technische Mittel verzichtet. Die Firma beschränkte sich auf eine Inaugenscheinnahme.
Mehr als zwei Tage nach einem Schneidevorgang waren Abfallsäcke am Einsatzort immer noch nicht entfernt worden. Auf einer Bodenmatte in einer Zugangsschleuse befanden sich Metallspäne. Benutztes Werkzeug „mit mehreren heißen Kontaktstellen“ wurde außerhalb der Schleuse mit Tüchern abgewischt, anstatt es in Plastikbeuteln zu verpacken und zu einer Kontroll- und Dekontaminationsanlage zu bringen.
Es geht noch weiter. Die nach der Abtrennung offenen Rohrenden wurden mit Klebeband abgedichtet, um eine Ausbreitung radioaktiver Kontaminierung zu vermeiden. Die Inspektoren fanden das ziemlich ineffektiv. Dann bemerkten sie auch noch, dass für die Früherkennung von Lecks wichtige Sensoren, welche Temperaturen und Füllstände im Reaktor messen, nicht als wartungspflichtig gekennzeichnet waren. Das zehnseitige Schreiben endet mit der Ankündigung seiner Veröffentlichung auf der Webseite von ASN und hochachtungsvollen Grüßen an den Kraftwerksdirektor von Penly.
Hier hat eine Aufsichtsbehörde ihren Auftrag sichtlich ernst genommen. Das ist bei ASN durchaus nicht immer der Fall – es lässt sich also nicht verallgemeinern. Nebenbei, wann hat eigentlich der TÜV Süd, der seine Unbedenklichkeitsbescheinigungen am Schreibtisch ausstellt, zum letzten Mal das AKW Isar besucht? Vielleicht beim legendären Auftritt der Herren Markus Söder (CSU) und Friedrich Merz (CDU) im Reaktorgebäude mit den eleganten gelben Pantoffeln. Die Politiker fanden, dass alles ganz toll aussieht.
Aber wollen wir überhaupt wissen, ob der graue Alltag in unseren Atomkraftwerken vielleicht gar nicht so verschieden wie der in Frankreich ist?
P.S. Im AKW Penly, gerade am behandelten Block 1, wurde Ende Februar 2023 ein 15,5 cm langer und 23 mm tiefer Riss festgestellt, bei 27 mm Wandstärke des betroffenen Rohrs. Das heißt, dass der Riss bereits 85% der Rohrwand erfasst hatte. Das kann man nicht mehr als mikroskopisch bezeichnen, es bestand eine akute Gefahr von Rohrbruch. Der hätte ein Leck im Hauptkühlkreislauf verursacht.