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Friedensforscher warnt vor deutscher Atomdebatte

Das angesehene US Magazin Bulletin of the Atomic Scientists veröffentlichte am 15. März einen Beitrag des Hamburger Friedensforschers Ulrich Kühn: “Germany debates nuclear weapons, again. But now it’s different.” Die Debatte um eine deutsche Atombombe sei nicht neu, stellt Kühn eingangs fest, es habe sie schon 2016 gegeben, als Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wurde, dann als dieser 2018 beinahe einen NATO-Gipfel platzen ließ, als Emmanuel Macron 2020 einen Dialog über eine europäische Nuklearstrategie initiieren wollte, nach dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 und zuletzt, nachdem Trump den US-amerikanischen Beistand für zahlungsunwillige oder -unfähige NATO-Staaten in Frage stellte.

Dieses Mal dürfe man sich allerdings nicht in der Illusion wiegen, dass die Sache ohne praktische Folgen ausgehen werde, warnt der Friedensforscher. Im politischen Berlin braue sich nämlich gerade ein Sturm zusammen, “a perfect storm”, der alles hinwegfegen könnte, “that might ultimately blow away”, was bisher das deutsche Selbstverständnis als Zivilmacht ausmachte.

Der Text beginnt mit einer Auflistung der häufig absurden Vorschläge, die es in letzter Zeit in die meistverbreiteten deutschen Medien geschafft haben. Er erwähnt die Idee einer Eurobombe, bei der ein Atomkoffer, mit anderen Worten: die Kommandogewalt, zwischen den Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten rotieren würde. Die geneigte Leserschaft wird sich vielleicht fragen, ob hier über Comedy berichtet wird, aber nein, der Vorschlag stammt von dem Historiker Herfried Münkler, der nun auch als Militärstratege ernst genommen werden möchte. Überdies sind Münklers Phantasien vergleichsweise harmlos gegenüber der realen Möglichkeit, dass der Atomkoffer der USA erneut einem nicht zurechnungsfähigen Autokraten anvertraut wird, während der rote Knopf in Russland auch nicht besser aufgehoben zu sein scheint. Darüber lacht ja auch keiner.

Weiter erwähnt Kühn das Ansinnen, tausend derzeit inaktive Nuklearsprengköpfe samt Trägerraketen von den USA zu erwerben. Einfach mal kaufen – die provozierende Idee stammt von Maximilian Terhalle, einem der vielen Nobodies, die es durch den Ukrainekrieg geschafft haben, sich zu sogenannten Militärexperten aufzuschwingen. Dazu müsste Berlin den Atomwaffensperrvertrag verlassen und den Zwei-plus-Vier-Vertrag aufkündigen, in dem Deutschland seinen dauerhaften Verzicht auf Massenvernichtungswaffen erklärt hat. Kein Problem für Terhalle, der sich darauf beruft, dass Verträge nach Lage der Dinge – rebus sic stantibus – überprüft werden könnten, was in diesem Fall implizieren würde, auch die deutsche Einheit einer Überprüfung zu unterziehen. Die FAZ vom 25.2.24 (paywall) weiß über den von ihr als Professor titulierten Mann zu berichten, dass er “viel an britischen Universitäten lehrt”.

Noch interessanter findet Kühn, dass der Besitz von Atomwaffen im gegenwärtigen Berliner Diskurs gedankenlos mit Abschreckung und folglich mehr Sicherheit gleichgesetzt werde. Der Autor wundert sich, warum der simple Ansatz, Atombomben als eine Art Lebensversicherung zu begreifen, einfach so als zutreffend unterstellt wird.

Trotz des dürftigen Niveaus macht Kühn wesentliche Unterschiede zu früheren Debatten über europäische oder deutsche Atomwaffen aus. Diesmal seien die deutschen Konservativen nicht allein mit ihren Eingebungen. Auch in anderen Ländern, vornehmlich in Polen, werde öffentlich über Alternativen zum amerikanischen Atomschirm nachgedacht. Zu ergänzen wäre an dieser Stelle die anhaltende ukrainische Klage über den Verlust der im Land stationierten Nuklearwaffen nach dem Zerfall der Sowjetunion.

Visionen einer eigenen Abschreckung würden inzwischen von einer ganzen Reihe politischer Schwergewichte ins Spiel gebracht. Namentlich nennt Kühn Friedrich Merz, den inzwischen verstorbenen Wolfgang Schäuble und Manfred Weber von der Union, Sigmar Gabriel und Katarina Barley von den Sozialdemokraten, Joschka Fischer und Sergey Lagodinsky von den Grünen sowie Christian Lindner von der FDP.
Bezeichnend sei auch, dass die nukleare Abrüstung in der aktuellen Berliner Politik keine Rolle mehr spiele. Außenministerin Baerbock habe mit ihrer Feststellung, “Abrüstung und Rüstungskontrolle als Ergänzung zu Abschreckung und Verteidigung zu begreifen”, faktisch das Thema beerdigt. In den Parlamentsdebatten des Jahres 2022 sei das Wort Abrüstung kaum mehr vorgekommen.

Schließlich werde der Diskurs in den Medien von einer neuen aggressiven Haltung geprägt. Hier gäben ein paar Dutzend Hardliner den Ton vor, bei dem jede Form von Zurückhaltung als Zeichen von Schwäche und Angst gewertet werde. Die jahrelange Ablehnung der Atomkraft durch die deutsche Bevölkerung sei inzwischen nicht mehr eindeutig.

Was sei als nächstes zu erwarten? fragt Kühn. Nach wie vor wünsche eine überwältigende Mehrheit der deutschen Bevölkerung keine eigenen Atomwaffen. Auch mache die Bundesregierung keine Anstalten, von der bisherigen Linie einer nuklearen Teilhabe am Abschreckungssystem von USA und NATO abzuweichen. Sollte ein wiedergewählter Donald Trump allerdings die US-Atomwaffen aus Europa abziehen, würden die Deutschen wahrscheinlich Paris und London zum verstärkten nuklearen Engagement für die Sicherheit Europas drängen – ein Konzept, dessen Erfolg ziemlich fraglich sei. Und dann könnten die einheimischen Nuklearisten zum Zuge kommen. “Die immer wiederkehrende deutsche Atomwaffendebatte hat im Laufe der Jahre die Grenzen des Denkbaren in der deutschen Politik immer weiter in Richtung Atom verschoben”, bilanziert der Friedensforscher.

Die FAZ hat schon einmal die technischen Möglichkeiten eruiert, die für ein Bombenprojekt hierzulande vorhanden seien. Nur wenige Wissenschaftler würden sich mit angewandter Kernforschung beschäftigen, nicht einmal im Heidelberger Max-Planck-Institut für Kernphysik. Diesem Institut wird es wahrscheinlich extrem unangenehm sein, plötzlich in eine Los Alamos-Perspektive gerückt zu werden, aber der FAZ-Artikel fährt munter fort: “Ein bekannter Physiker ist bereit, anonym Auskunft zu geben. Ihm zufolge ist Deutschland in der Lage, eigene Atomwaffen zu produzieren. Er verweist auf ein Start-up in Jülich, das sich mit dem Bau von Zentrifugen für die Urananreicherung beschäftige. Die DDR hat zu Zeiten des Kalten Krieges Uran im Erzgebirge abgebaut, es gebe den Rohstoff dafür also notfalls auch im eigenen Land. Den politischen Willen vorausgesetzt, hält es der Mann für machbar, in drei bis zehn Jahren eine Atombombe zu bauen.”

Beide bleiben anonym, der bekannte Physiker und das Zentrifugen-Startup in Jülich. Womöglich leben sie von öffentlichen Geldern?

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Detlef Zum Winkel

Detlef zum Winkel, ursprünglich Physiker. Lebt in Frankfurt am Main und schreibt vornehmlich für die Berliner Wochenzeitung Jungle World. Betreut dort u.a. die Themen Atomenergie und Proliferation.