Marianne

Am 7. April wäre Marianne Fritzen 100 Jahre alt geworden. Ein Portrait von Wolfgang Ehmke.

Ikone der Anti-Atom-Proteste? Am 19. März 1979 nahm Marianne Fritzen zum ersten Mal an einer Straßenblockade im Wendland teil. Dabei fotografierte Günter Zint die kleine 55-jährige Frau mit der Strickmütze, die sich von dem übermächtigen Polizeiaufgebot nicht vom Demonstrieren abhalten lassen wollte. Ihr fragend-listiger Blick verunsichert erkennbar die Uniformierten. Aus dem Schnappschuss machte der Fotograf ein Plakat mit Symbolkraft: David gegen Goliath – eine ältere Dame nimmt es mit der mächtigen Branche der westdeutschen Energiekonzerne auf.

Doch eine Ikone wollte Marianne Fritzen, die 1924 in Saarbrücken geboren wurde, nie sein (Kamien / Rheinländer 2008: 63). Sie wuchs zweisprachig im Elsass auf, machte Abitur in Paris und erlebte dort den Einmarsch der Wehrmacht. Über den ‚Umweg‘ Berlin zog sie 1957 mit ihrem zweiten Ehemann nach Lüchow. Ihre sieben Kinder waren fast alle aus dem Haus, als im Dezember 1973 bekannt wurde, dass in der Nähe, in Langendorf, ein Atomkraftwerk errichtet werden sollte. Das war für Marianne Fritzen, die sich bis dahin in der katholischen Kirche engagiert hatte, der entscheidende biografische Einschnitt.

Es war zugleich die Geburtsstunde der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, als deren ,Gründungsmutter‘ sie gilt. Sie schrieb Leserbriefe, schaltete Zeitungsanzeigen, besuchte Ratssitzungen. Sie gründete später auch den Kreisverband der Grünen mit. 2000 verließ sie die Partei, verärgert über den sogenannten Atomkompromiss, ohne allerdings die politischen Fäden abreißen zu lassen.

Sie war außerordentlich gut vernetzt, korrespondierte mit den Anti-Atom Aktivsten in Wyhl und pflegte Kontakte nach Frankreich, wo auf dem Causse du Larzac gegen den Widerstand der Bäuerinnen und Bauern ein militärisches Übungsgebiet ausgeweitet werden sollte. Diese Beispiele festigten ihre Überzeugung, dass Widerstand nur gewaltfrei erfolgreich und ethisch zu verantworten sei. Auf der Suche nach Unterstützung hofierte sie Mitte der 1970er-Jahre kurzzeitig aber auch den rechtslastigen Weltbund zum Schutz des Lebens (Ehmke 2020).

Die Planungen für das Atomkraftwerk in Langendorf wurden zurückgestellt, kurz darauf, am 22. Februar 1977, legte sich die damalige niedersächsische Landesregierung auf Gorleben als Standort für ein nukleares Entsorgungszentrum fest – dieses Datum wurde zur Geburtsstunde des Gorleben-Widerstands. Das Kernstück sollte eine Wiederaufarbeitungsanlage werden – das dabei entstehende Plutonium hätte auch der Waffenproduktion dienen können.

Der große politische Druck aus der Bevölkerung verhinderte die Anlage, aber ein Zwischenlager für schwach und mittelradioaktive und ein weiteres für hochradioaktive Abfälle wurden 1984 und 1995 in Betrieb genommen.

Zwischenzeitlich, 1986, war auch mit dem Abteufen der Schächte für ein Bergwerk begonnen worden, das den Bau eines Endlagers für hochradioaktiven Müll im Salzstock Gorleben vorbereiten sollte. Marianne Fritzen wurde auch hier aktiv. Zwölf Jahre wirkte sie als Ehrenamtliche im Vorstand der Bürgerinitiative, noch im hohen Alter beteiligte sie sich an den Protesten gegen die Castortransporte nach Gorleben. Sie als Grande Dame der deutschen Anti- Atom-Bewegung‘ zu charakterisieren, trifft es letztlich wohl am besten. Dabei war sie von ausgesuchter Höflichkeit und Verbindlichkeit, die auch politischen Gegnern Respekt abverlangte – zum Tee in ihrem Haus empfing die wissbegierige und streitbare Frau Ministerinnen und Professoren zum Meinungsaustausch (Paluch 2016). Das Bundesverdienstkreuz, das ihr in den 1990er-Jahren verliehen werden sollte, lehnte sie indes brüsk ab: Eine Auszeichnung durch den „Atomstaat“, der die Protestszene bespitzele und kriminalisiere, wollte sie nicht (Morgenthaler 2010).

Die Transporte nach Gorleben wurden 2011 eingestellt, zwei Jahre später wurde ein neues, vergleichendes Endlagersuchverfahren auf den Weg gebracht. Das durfte sie noch miterleben. Marianne Fritzen starb am 6. März 2016.

Wolfgang Ehmke: Marianne Fritzen. In: Langebach, Martin (Hrsg.): Protest. Deutschland 1949–2020. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2021, S. 217

Foto Günter Zint/Gorleben Archiv e.V.